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ALPENRADIERUNGEN
VON GERHART FRANKL.

Die Alpen sind eines der großen Gefühlserlebnisse der europäischen Menschheit. Anders als
andere Gebirgszüge, die ebenso großartige Schauspiele und künstlerisch nicht minder dankbare
landschaftliche Szenerien bieten, aber in ihrer Entlegenheit immer nur lokale oder gelegentliche
Wirkung auszuüben vermochten, — das schottische Hochland oder die Pyrenäen, der Schwarzwald
oder griechisches Gebirge — sind die Alpen im Bewegungszentrum des Kontinents gelegen; zahllose
Straßen der Politik und des Handels, der Kirche und der Bildung, des Verkehrs und der Kunst
haben sie gekreuzt. Wie rassengeschichtlich oder militärisch sind sie durch alle Jahrhunderte auch
geistesgeschichtlich und ästhetisch eine europäische Angelegenheit gewesen; die Geschichte ihrer
Entdeckung und Erschließung erzählt ein gutes Stück vom Wesen des Naturgefühles der euro-
päischen Nationen.

Zwei Achsen bestimmen das wechselnde Verhältnis zu dem ganzen Komplex, den die
Alpen für das Gefühl darstellen, Gesamteindruck und Einzelfülle; diese doppelte Möglichkeit, vom
Ganzen oder von den Teilen aus eine Erscheinung zu ergreifen, die für alle Auseinandersetzung
mit der Außenwelt überhaupt maßgebend ist, hat auch die künstlerische Entdeckung der Alpen
bestimmt. Der Erkenntnis des Einzelnen mußte das Erfassen des Ganzen vorangehen; man muß
etwas lieben, ehe man seinen Schönheiten näherzukommen vermag. Lionardos und Dürers
staunendes Erlebnis erhöhter Alpennatur ist der intimen Versenkung in ihre Reize bei den Malern
der Donauschule und der venezianischen Terraferma vorangegangen wie Brueghels Erfüllung mit
der Größe der Alpenwelt den »kosmischen« Landschaften vom Ende des XVI. Jahrhunderts. Auf
diese erste Periode der Alpenmalerei folgt eine breite Zone barocker Geringschätzung, aus der erst
die soziologische und literarische Entdeckung des Alpenvolkes auch den Schauplatz ihres Lebens
erlöste; Albrecht von Haller und Rousseau haben den empfindsamen Reisenden und Vedutenzeichnern
den Weg gewiesen, auf dem bald der breitere Strom der abenteuerfrohen Touristen und endlich auch
die große Kunst gefolgt ist. Die Geschichte dieser künstlerischen Entdeckung von Koch und den
Romantikern über Calame und Rottmann zu Segantini und Hodler ist oft genug erzählt worden, als
daß sie hier wiederholt zu werden brauchte; aber es ist nicht unnötig, daran zu erinnern, daß die
Graphik in dieser Geschichte gegenüber der Malerei unverhältnismäßig zurücktritt. Der Alpengraphik
ist, sofern sie nicht die Malerei als bescheidene Helferin begleitete und die Errungenschaften jener
in ihren knapperen Sprachschatz übertrug, fast lediglich die Schilderung kleiner und intimer Reize
zugefallen; die Nachlese auf einem Felde, auf dem die reiche Ernte einzubringen selbst die viel-
fältigeren und weiter spannenden Mittel der Malerei kaum ausreichten. Diese Bescheidung erscheint
angesichts der Fülle der Phänomene begreiflich, aus denen sich der Begriff der alpinen Schönheit
zusammensetzt — die große Form, die ungeheure Weite, die Leuchtkraft der Farben, die Bewegtheit
des Lichtes —, wir wissen, daß es soviel ist, daß es historisch nur schrittweise erobert werden konnte,

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