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Frans Masereel, Aus der Holzschnittfolge »La Ville«

begreiflich, als wenn er nur die Realität gäbe. Er spricht ein neues Esperanto, das nicht gelernt zu
werden braucht. Es ist die tiefmenschliche Sprache, die für kein Wesen unzugänglich ist. Bei jedem
Typus hat er gleich den charakteristischen Ausdruck gefunden. Daumier hat die Politiker, die kleinen
Spießbürger seiner Zeit in seinen Lithographien für alle Zeiten gehechelt. Goya hat in seinen
Radierungen gegen den Krieg und seinen ganzen Greuel eine ewige Klage erhoben. Masereel hat uns
ganz zeitgemäß die kostbarsten Dokumente des heutigen Menschentums gegeben.

Besser als alle Photographien, Zeitungen und Romane werden später Masereels Holzschnitte
genaue und treffliche Urkunden unserer heutigen Zeiten sein. Sie werden veranschaulichen, wie
man gelebt, gehaßt, geliebt und gekämpft hat. Ein deutlicheres, wahreres und unmittelbareres Bild
dieser Zeit ist nicht möglich.

Die »Lieder ohne Worte« Masereels werden nie verklingen. Er hat das Leben das Leben sein lassen,
ohne Verschönerung, ohne Phantasie. Aber weil er neben dem Künstler auch Mensch ist, hat er damit
auch gegen unsere jetzige Zivilisation, gesehen in unerbittlicher Realität, eine schreiende Klage
erhoben. Grotesk hat er ihren Materialismus, sarkastisch ihre Heuchelei, satirisch ihren starren
Konventionalismus gepeitscht. Aber niemals spürt man etwas Gewolltes und Vorausgesetztes dabei.
Wir selbst schrecken zurück vor diesen Zeitbildern und Vorurteilen. Seine gewaltige Anschauungs-
kraft und seine scharfen Ausdrucksmittel, nur aus Licht und Schatten gebildet, bewirken dies. Er
erzählt ohne Kanzelton, ohne Moralisierung, ohne Prinzipienreiterei — wir lauschen, schauen, richten.
Wie die ganze Welt des äußerlichen und inneren Lebens für Masereel offenliegt, zeigen seine
 
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