XXXVIII
Nicht genug gewertet, noch richtig erklärt wurde Schillers Verhältnis
zu Kant und was seine schließliche Abkehr vom Königsberger Philo-
sophen und seine Harmonie mit Goethe hätte lehren können.
Mit wenig Worten sei darauf hingedeutet.
Die Beobachtung ist noch kaum gemacht worden, daß Kants stoisches
Ideal der Tugend, deren Kriterium in eigener Brust zu finden ist,
im Grund eine gewisse Verwandtschaft zeigt mit jenem stoisch selbst
aufgestellten Tugendideal der gloire, nur daß Kant behauptete, die
Pflicht schließe jeden Lohn an äußeren Glückseligkeiten aus. Der
Lohn kantischer Tugend ist nicht äußerer Ruhm, sondern die Be-
friedigung des Rechtbehaltens in der eigenen vorgefaßten Idee.
Schiller wurde sich bewußt, daß die Freude des Rechtbehaltens und
das Verlangen, der ganzen Welt den Grundsatz der eigenen Über-
zeugung aufdrücken zu wollen, der Korrektur ästhetischer Offen-
barung bedürfe, um nicht dem deutschen Nationalfehler eigensinniger
Rechthaberei zu schmeicheln, wie die Idee der gloire dem National-
fehler der Franzosen geschmeichelt hatte.
Kants majestätische Beschreibung des ewigen Gerichtshofs der Pflicht,
seine eigene mystische Verehrung für die Schönheit eines allgemeinen
Sittengesetzes, bewunderungswürdig wie die Sternenwelt, das mußte
einen richtenden Dichter wie Schiller zuerst mit Begeisterung er-
füllen.
Wenn er sich in gewaltigem Seelenkampf gegen den bewunderten
Meister und über ihn erhob, so ist dieser Sieg der Seele für immer
bedeutend und vorbildlich. Er ähnelt jenem Kampf und Sieg, den
Paulus durchmachen mußte, um den dreizehnten Brief an die Korinther
schreiben zu können. Es ist ein Überwinden des prachtvollen aber
schrecklichen Dekalogs durch die Botschaft der Evangelien. Eine
höhere Schönheit ist zu finden, wenn wir uns zu Füßen eines
sanften Berges im Abendrot lagern und der Bergpredigt lauschen,
als wenn wir zitternd vor dem blitzumzuckten Sinai stehen. Der
Fuß des Sinai war in Blut getaucht, in Bruderblut. Von ihm ging
es aus in Krieg und Haß fern von der Anmut und Würde des
Verstehens und Verzeihens, der selbstlosen, furchtlosen Andacht,
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Nicht genug gewertet, noch richtig erklärt wurde Schillers Verhältnis
zu Kant und was seine schließliche Abkehr vom Königsberger Philo-
sophen und seine Harmonie mit Goethe hätte lehren können.
Mit wenig Worten sei darauf hingedeutet.
Die Beobachtung ist noch kaum gemacht worden, daß Kants stoisches
Ideal der Tugend, deren Kriterium in eigener Brust zu finden ist,
im Grund eine gewisse Verwandtschaft zeigt mit jenem stoisch selbst
aufgestellten Tugendideal der gloire, nur daß Kant behauptete, die
Pflicht schließe jeden Lohn an äußeren Glückseligkeiten aus. Der
Lohn kantischer Tugend ist nicht äußerer Ruhm, sondern die Be-
friedigung des Rechtbehaltens in der eigenen vorgefaßten Idee.
Schiller wurde sich bewußt, daß die Freude des Rechtbehaltens und
das Verlangen, der ganzen Welt den Grundsatz der eigenen Über-
zeugung aufdrücken zu wollen, der Korrektur ästhetischer Offen-
barung bedürfe, um nicht dem deutschen Nationalfehler eigensinniger
Rechthaberei zu schmeicheln, wie die Idee der gloire dem National-
fehler der Franzosen geschmeichelt hatte.
Kants majestätische Beschreibung des ewigen Gerichtshofs der Pflicht,
seine eigene mystische Verehrung für die Schönheit eines allgemeinen
Sittengesetzes, bewunderungswürdig wie die Sternenwelt, das mußte
einen richtenden Dichter wie Schiller zuerst mit Begeisterung er-
füllen.
Wenn er sich in gewaltigem Seelenkampf gegen den bewunderten
Meister und über ihn erhob, so ist dieser Sieg der Seele für immer
bedeutend und vorbildlich. Er ähnelt jenem Kampf und Sieg, den
Paulus durchmachen mußte, um den dreizehnten Brief an die Korinther
schreiben zu können. Es ist ein Überwinden des prachtvollen aber
schrecklichen Dekalogs durch die Botschaft der Evangelien. Eine
höhere Schönheit ist zu finden, wenn wir uns zu Füßen eines
sanften Berges im Abendrot lagern und der Bergpredigt lauschen,
als wenn wir zitternd vor dem blitzumzuckten Sinai stehen. Der
Fuß des Sinai war in Blut getaucht, in Bruderblut. Von ihm ging
es aus in Krieg und Haß fern von der Anmut und Würde des
Verstehens und Verzeihens, der selbstlosen, furchtlosen Andacht,
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