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Jünglinge aller Länder befinden sich darum in den pädagogischen
Provinzen und alle Sprachen, wie alle Künste und Handwerke werden
ihnen geläufig, ein Band schlingt sich um Alle. Mit dem gemeinschaft-
lichen, freudigen Schönheitsglauben, der sie beseelt, läßt sich jede
religiöse Überzeugung vereinen. Aber auch ohne kirchliches Dogma
ist ein frommes Wesen unzertrennlich von diesem Utopien.
Ernst und Heiligkeit werden verehrt, so viel Raum auch den heiteren
Stunden gewährt wird. Das vornehmste Gesetz ist, Ehrfurcht zu
kennen. Nur Ehrfurcht läßt Schönes wollen, Schönes erhalten,
Schönes neu hervorbringen, Ehrfurcht vor dem Weltgeheimnis, vor
der Natur, vor dem Menschen, Ehrfurcht vor jedem echten Können
und Kunstvermögen, Ehrfurcht für das Göttliche in uns selbst, Ehr-
furcht vor denen, die uns vorangegangen und vor denen, die nach
uns kommen sollen, damit sie ein stolzes Erbe antreten können.
Sein zweites großes ästhetisches Bekenntnis hat Goethe im Faust
niedergelegt.
Es ist umfassend wie kein anderes, denn sechzig Jahre trug er sich
mit diesem Werk und gönnte ihm seines Geistes unendlichen Reich-
tum, so daß der Nachfahre unter so viel Schätzen sich leicht staunend
verliert. Der Leitfaden ist jedoch offenbar genug. Auch hier handelt
es sich um Bildung durch Schönheit, die alles Wahre, Gute und
Nützliche zum wirksamen Leben bringt.
Man betrachte das Anfangs- und Schlußbild des eigentlichen Dramas
mit geistigem Auge.
Was stellt sich dar?
Am Anfang die dunkle, grämliche Gelehrtenstube, grinsende Gerippe,
Mottenvolk, müdgelesene Folianten, Staub, Staub!
Zum Schluß Ausblick auf das Meer, tätiges Volk, Bauten, Gärten,
Arbeitsfreude und Stolz, der Himmel, die freie Luft.
Am Anfang einer, der in besten Mannesjahren am Sinn des Lebens
verzweifelt, am Schluß ein unermüdlicher Greis, der den schönen
Augenblick zu verweilen bittet.
Was führt aber von einem Bild zum andern? — Aus dem Spinti-
sieren, aus staubig grauer Theorie weckt die Schönheit, die zu den
Sinnen spricht, denn sie pocht am vernehmlichsten, am selbstverständ-
lichsten an das Menschenherz.
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