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Goldschmidt, Adolph; Weitzmann, Kurt; Goldschmidt, Adolph [Hrsg.]; Weitzmann, Kurt [Hrsg.]
Die byzantinischen Elfenbeinskulpturen des X. - XIII. Jahrhunderts (Band 1): Kästen — Berlin: Bruno Cassirer, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.53146#0025
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BYZANTINISCHE ELFENBEINSKULPTUREN

der Miniaturübertragung ist die Wiedergabe des in illusionisti-
schen Pinselstrichen angedeuteten Schuhwerks durch ein ac le
Ritzlinien. Eine besondere Ausbildung erfährt die Kopf-, ioi a em
die Haarbehandlung: über dem in der Mitte gescheitelten aar
liegt vielfach noch ein Kranz von Buckellocken. Die Augen sind
flach mandelförmig und zeigen noch kaum das für die spätere eit
so charakteristische Zusammenziehen der Augenbrauen.
Die Mosesplatte (Nr. 5) zeigt in stilistischen Einzelheiten wie den
schlanken Fußknöcheln, den lang durchgeritzten parallelen kalten
usw. enge Beziehung zu den Josuaplatten. Der Kasten aus La Lava
(Nr. 6) entwickelt den Stil weiter zu manieriert schlanken Körper-
formen mit auffallend kleinen Köpfen. Gegenüber der mehr male-
rischen Behandlung der Josuaplatten werden die Einzelformen
schärfer präzisiert. So werden z. B. die Haarsträhnen gegeneman
der abgesetzt gleich den über ihnen liegenden Buckellocken Der
Heiligenstreifen (Nr. 7) ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen
wegen der mit Nr. 6 übereinstimmenden Ornamentik mit der
reichen Zwickelfüllung, gehört aber im übrigen einer anderen
Gruppe von Elfenbeinen an. Die Kastenfragmente Nr. 8 zeigen
eine merklich abnehmende Sicherheit in der Körperbehandlung.
Neben die freie Beweglichkeit der Figuren tritt ein starkes Ge-
fühl für ornamentale Ausgewogenheit des Einzelfeldes, was oft
zwischen beiden zu Konflikten führt. Flatternde Gewänder treten
als Flächenfüllung hinzu. Schon macht sich die Neigung des
Schnitzers bemerkbar zu einer willkürlichen Umwandlung der
Bekleidungsstücke: von Panzer zu Tunika, von liinika zu Ex-
omis, und schließlich zu ihrem gänzlichen Fortfall. Auf dem Kasten
Nr. 9 sind die völlig entkleideten Krieger unsicherer in den I ro-
portionen als die noch direkter mit dem Vorbild zusammenhän-
genden bekleideten. Mit dem stilistisch eng sich anschließenden
Kasten Nr. >o und der Platte Nr. 1 r ist im engeren Sinne die Jo-
suagruppe abgeschlossen.
Bei dem Kasten Nr. 12 nimmt mit Eindringen antiker I ypen die
Reliefhöhe zu. Die Figuren werden rundlich modelliert, die Pro-
portionen gedrungen, die Gewänder erfahren eine gewisse Verstei-
fung, und die Tuniken stehen gespreizt ab. Die Haarbehandlung
wird komplizierter durch eine verschiedenartige ornamentale
Durchbildung der Locken. Noch einen Schritt weiter gehen die
Fragmente eines Kastens (Nr. 13-19), dessen Platte Nr. 19 eine
unmittelbare Übereinstimmung mit Nr. 12 d zeigt. Das Relief
nähert sich freiplastischen Figuren, die noch gedrungener werden
gegenüber Nr. 12 vor allem durch die großen Köpfe. Mit diesen bei-
den letzten Kästen laufen wir zeitlich schon neben den antikisie-
renden Kästen her. Noch spätere an die Kastenfragmente sich
anschließende Kästen (Nr. 4u 43) zeigen im Typenschatz schon
eine völlige Verschmelzung mit späten antikisierenden Kästen,
weshalb sie erst in der allgemeinen Entwicklung dieser Gruppe
behandelt werden sollen. Nur ein Kasten sei hier noch angefügt
(Nr. 20), dessen Typen zwar auf der Stufe des Kastens Nr. 12
stehen, dessen flüchtige unscharfe Schnittart jedoch auf eine spä-
tere Entstehungszeit zu deuten scheint.
b) Die antikisierenden Kästen
Ein einheitlicher sich immer wiederholender I ypenschatz und eine
klar faßbare Entwicklung der Einzeltypen verbinden die Kästen
mit antikisierenden Darstellungen (Nr. 21—64) untereinander. Die
Entwicklung, die von einer dem antiken Vorbild noch ziemlic 1
nahestehenden Gestaltenbildung zu einer Deformierung ins Putten-
hafte und schließlich zu ornamentaler Erstarrung führt, läuft
parallel der allgemeinen Entwicklung des 11. und 12. Jahrhun-
derts. Die Teilgruppen, die aus der Materialfülle sich heraussondern
lassen, stellen die verschiedenen Stadien einer Fypenentwii klung
dar, welche mit der zeitlichen insofern zusammenfällt, als sie
nicht nur auf Änderung ikonographischer Einzelheiten, sondern
auch auf einem Wechsel des Stilempfindens beruht. Diese Ent-
wicklung von einer Art hellenistischem Naturalismus zu mittel-

alterlicher Abstraktion hat sich im wesentlichen in fünf Phasen
vollzogen.
a) Der Kasten aus Veroli und die sich direkt um ihn gruppieren-
den Stücke (Nr. 21—26) enthalten den reichsten Typenschatz und
stehen den hellenistisch-antiken Vorbildern am nächsten. An der
Iphigenien-Darstellung (Nr. 21b) läßt sich dieses Verhältnis zur
Antike noch genau überprüfen, da das Vorbild erhalten ist in der
Ara des Kleomenes in den Uffizien. Trotzdem es sich in dieser
Gruppe von Kästen fast ausschließlich um antike Figuren handelt
— nur zweimal kommen Josuakrieger vor (Nr. 21a und 26b) —,
sind diese doch in einem Punkte weniger antik als die Josuaplatten,
nämlich der dichten Relieffüllung, durch welche die Figuren bis
zur gegenseitigen Behinderung dicht aneinander und sogar über-
einander geschoben und Schalen und Gewandstücke in einem
primitiv anmutenden horror vacui eingestreut werden. Die Beweg-
lichkeit der Figuren hat dadurch nichts eingebüßt, sie wirkt im
Gegenteil übertrieben puttenhaft und exaltiert. In Einzelheiten
macht sich eine manieristische Tendenz bemerkbar: das Standmo-
tiv der Figuren ist oft unsicher, die Formen des Nackten sind über-
plastisch in der rundlichen Herausarbeitung einzelner Körperteile,
die Gewänder bekommen überreiche Fältelungen und unruhige,
mäanderartig bewegte Säume. Geradezu virtuos wird das Haar be-
handelt: bald sind es Buckellocken, bald flammenartige Bildun-
gen, bald Wellenbänder, bald Strähnen.
Trotz engster Stilverwandtschaft lassen sich nicht zwei verschiedene
Kästen oder Platten als Werke ein und desselben Schnitzers er-
kennen. Die Platte Nr. 23 ist wohl das beste Stück der Gruppe.
Sie zeigt schlanke, biegsame Körper und eine gewisse Weichheit
in der Modellierung. Vermutlich haben wir es hier mit dem frühe-
sten Stück dieser Gruppe zu tun. Die Figuren von dem aus Veroli
stammenden Kasten (Nr. 21) wirken gedrungener in den Propor-
tionen und die flatternden Gewänder sind um eine Nuance weni-
ger belebt als bei Nr. 23. Die auf derselben Stilstufe stehenden
Platten Nr. 24 und 20 sind nicht ganz so minutiös durchgebildet,
was sich vor allem in der Behandlung der Haare und Augen be-
merkbar macht. Allen diesen Stücken ist eine hohe fast freiplasti-
sche Behandlung des Reliefs eigen; nur die Platte Nr. 22 und der
Kasten Nr. 26 sind um einige Grade flacher im Relief. Bei letzteren
hat die Ged rungenheit der Figuren, die besonders durch ihre großen
Köpfe mit den scharf markierten hochgezogenen Augenbrauen
auffallen, noch weiter zugenommen. Die gesättigte Plastizität der
Einzelformen kommt im Ornament bei der Füllrosette (Nr. 21a)
zum Ausdruck. Eine Freude an minutiöser Durchbildung zeigt die
äußerste Wellenranke desselben Kastens mit den mannigfaltigen
stilisierten Blatt- und Blütenbildungen.
Eine annähernde Datierung der behandelten Kästen läßt sich durch
Vergleichung mit einer Gruppe kirchlicher Elfenbeine gewinnen,
welche in Einzelheiten der Kopf- und Gewandbildung mit den
zitierten Kästen derart übereinstimmt, daß man für die beiden Grup-
pen dieselbe Werkstatt annehmen möchte. Das Hauptstück dieser
kirchlichen Elfenbeine ist die bekannte Koimesisplatte von hervor-
ragender Qualität, die sich auf dem Buchdeckel der Münchener
Zimelie Nr. 58, dem Evangeliar Ottos 111., befindet (Abb. 3). Da diese
Handschrift mitsamt dem zugehörigen Buchdeckel ins Ende des
10. Jahrhunderts sich datieren läßt, so ist damit ein terminus ante
quem nicht nur für die Koimesisplatte, sondern auch für die übrigen
sich um sie gruppierenden Elfenbeine gewonnen. Gegen die Mög-
lichkeit einer Entstehung dieser Elfenbeingruppe schon wesentlich
vor diesem terminus ante spricht ihr manierierter Stil, der uns zum
erstenmal zeitlich greifbar wird indem um die Jahrtausendwende zu
^datierenden vatikanischen Menologium. Es lassen sich denn auch
Parallelen aufweisen zwischen den Kästen und dieser Handschrift,
die für eine annähernd gleiche Entstehungszeit beider sprechen.
Man vergleiche auf Körper- und Gewandbehandlung hin den
Bacchus von Nr. 2ie mit einer Götterfigur des Menologiums (II
Menologio, S. 187). Wir kommen also mit unseren Kästen etwa
in das Ende des 10. bis Anfang des 11. Jahrhunderts.
 
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