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Grill, Erich
Der Ulmer Bildschnitzer Jörg Syrlin D. Ä. und seine Schule: ein Beitrag zur Geschichte der schwäbischen Plastik am Ausgang des Mittelalters — Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Band 21: Strassburg: Heitz, 1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.73234#0033
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19 —

«Seelaltar» erscheinen: Jeremias, Salomo und Mieheas; seitlich
gegen Süden und Norden schließen Zacharias und Habakuk
die Reihe. Den beiden letzteren entsprechen auf der schräg-
gestellten Tischplatte 2 Sibyllenbüsten. Das breite Gesicht der
turbangeschmückten «Samia» umrahmt ein Schleier, unter dem
das fleischige Kinn kräftig vorspringt. Geöffnete Lippen, flach-
liegende Augen und Betonung des Jochbeins lassen, trotz des
fremdländischen Putzes erkennen, daß hier etwa eine biedere
deutsche Bäuerin Modell gesessen hat. Um so liebenswürdiger
gegenüber die «Eritria». Von dem um das leicht geneigte
Köpfchen geschlungenen Tuch gleiten zwei Enden frei auf die
Schultern herab und wetteifern an Grazie mit den feingliederigen
Händen. Eine gewölbte Stirn und runde Backen, die schmälere
Nase und gutsitzende Augen mögen wohl einer Ulmer Bürgerin
angehört haben. — Mit dieser weiblichen Weichheit kontrastiert
die männliche Härte der genannten Giebelbüsten. Die Ge-
sichter zeigen ein länglicheres Oval. Starke Falten laufen um
Nase und Augen. Besonders tiefe Einschnitte über Nasen-
wurzel und Mundwinkeln weisen «Ysaias» und «David» auf.
Haupt- und Barthaar ringelt sich in langen Lockenwindungen.
Dieselben lockeren Windungen wiederholen sich in den reichen
Pflanzenornamenten an den Schmalwänden und besonders am
Pult.
Hier das Ineinanderspielen figürlichen und ornamentalen
Schmuckes — dort der Kontrast von Rauhem und Zartem. —
Das Ganze leicht und frei emporwachsend und doch nicht locker
in der Konstruktion, zierlich — aber nicht geziert. Ein fröh-
licher Kampf zwischen Beharrung und Aufstreben, zwischen
Ruhe und Bewegung. Das Motiv der breiten Grundlage wird
in dem kastenartigen Ueberbau wieder aufgenommen. Die
durchbrochenen Seitenwände und schlanken Stützen wirken
nach in den Streben und Fialen. Selbst die vielfach ange-
brachten Mäanderstäbe und Intarsien, sowie die zahlreichen
lateinischen Sprüche verderben nicht den harmonischen Gesamt-
eindruck.
Stolz konnte der Meister an der bis zu halber Höhe auf-
ragenden Rückwand Namen und Datum anbringen: Joerg Syrlin
1468 andree (= am Andreastag, 30, Nov.).
 
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