Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Grill, Erich
Der Ulmer Bildschnitzer Jörg Syrlin D. Ä. und seine Schule: ein Beitrag zur Geschichte der schwäbischen Plastik am Ausgang des Mittelalters — Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Band 21: Strassburg: Heitz, 1910

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.73234#0035
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
— 21 —

Aber gerade diese Unterbrechung der langen Linienflucht
über fortlaufenden Sitzreihen wirkt wohltuend, wie in der Musik
eine Pause, die die gleichmäßige Tonfolge aufhält.
Die im Dreisitz angeschlagenen Akkorde werden als Leit-
motiv in die Komposition des Chorgestühls 1 aufgenommen und
klingen durch alle Variationen wieder. Das künstlerische Talent
entfaltet sich in seinem ganzen Reichtum an Schönheit und
erfinderischer Kraft; es offenbart sich ebenso großartig in der
Bewältigung der Gesamtmasse, wie in der Durcharbeitung der
kleinsten Einzelheiten. Und wenn auch Meister Joerg nicht
jedes Detail eigenhändig ausgeführt hat, so atmet doch alles
seinen Geist. Die Schwierigkeit bestand einerseits darin, die
horizontallaufende Lagerung — schon im Begriff des Sitzens
liegt eine gewisse Schwerfälligkeit — durch vertikale Be-
wegung auszulösen. Andererseits mußte die Einförmigkeit des
unaufhaltsamen Flusses gehemmt werden. In je zwei Gliedern
stehen die Sessel hintereinander. Der zweiten Reihe2 dient
die Rücklehne der vorderen Sitze als Pult. Mit hohem Dorsal
lehnt sie sich an die Chormauer. Und reges Leben überflutet
totes Gestein.
Das reiche Füllhorn spätgotischen Formenschatzes ist über
das hölzerne Gerüst ausgegossen, wie wenn die abgestorbenen
Eichen noch einmal ausgeschlagen und wunderbare Gebilde
hervorgebracht hätten. Ein reizvolles Spiel zwischen frei
naturalistischen und streng stilisierten Pflanzenornamenten,
zwischen durchbrochenen und erhabenen, eingelegten und auf-
gelegten Mustern hebt an in den stets wechselnden Rosetten
der Fußgestelle, gleitet über Sitzkonsole und Wangenknäufe
zur Rückwand und rankt sich von hier empor bis zu den
Bekrönungsbaldachinen, die, zu je 5 auf jeder Seite, den
obersten Abschluß bilden. Architektonische und plastische Ge-

1 Beschreibung des Chorgestühls von Grüneisen und Mauch:
S. 71—72; Pressel: S. 73—83; Lübke: «Gesch. der Plastik», Bd. II,
S. 687—88; Bode: «Gesch. d. deutschen Plastik», S. 180; Pfleiderer:
Sp. 36—41, dsgl. von demselben: Münster buch: «Das Ulmer Münster in
Vergangenheit und Gegenwart». (Ulm, Ebner 1907). S. 65—100.

2 Durch zwei Stufen 45 cm höher wie die erste gelegt.
 
Annotationen