Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Grill, Erich
Der Ulmer Bildschnitzer Jörg Syrlin D. Ä. und seine Schule: ein Beitrag zur Geschichte der schwäbischen Plastik am Ausgang des Mittelalters — Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Band 21: Strassburg: Heitz, 1910

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73234#0041
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
27 —

inneren Enden des Kopftuches ein, die ihrerseits wieder gegen
den Ausgangspunkt zusammenlaufen. Starke Einkerbungen
unter dem Kinn und der rechten Schulter erzeugen kräftige
Schatten, die das geeignete Gegengewicht zu dem Parallelismus
schaffen und die bildmäßige Qualität erhöhen. Aber die Span-
nung, die auf den Zügen liegt, wird dadurch nicht gelöst. Diese
Aufgabe fällt der Hellespontica zu. Dem ernsten Alter tritt die
heitere Jugend, der gesteigerten Herbheit der natürliche Froh-
sinn entgegen. Alle Härten sind vermieden. Ein freundliches
Lächeln umspielt die Lippen. Unter .der schöngemusterten
Mütze legt sich das Haar in dicken Flechten rings um den
Kopf und ringelt sich in zierlichen Löckchen über den Schläfen.
Schelmisch zuckt es um den Mund und die bebenden Nasen-
flügel. Zwischen fleischigen Lidrändern glänzen die Augen vor
Lebenslust. Eng liegt die Jacke an über den abfallenden
Schultern und der knospenden Brust. Aus weiten Unterärmeln
wachsen überschlanke Hände heraus, die mit unnachahmlicher
Grazie ineinander greifen. Weder Geste noch Ausdruck passen
zu dem lateinischen Spruch1 unter ihr: felix ille dives ligno
qui pendet ab alto.
Ebensowenig stehen die Mienen der cumanischen Sibylle
in irgend welcher Beziehung zu den ihr in den Mund gelegten
Worten: «Der Vorhang des Tempels wird zerreißen und am
Mittag wird Finsternis herrschen.» Die ein wenig schräg ge-
stellten Augen sind halb geschlossen. Traumbilder scheinen
die Sibylle zu umgaukeln. Aber offenbar haben sie nichts
Schreckhaftes, denn keinerlei Aufregung gibt sich in ihrem
Antlitz kund. Die Partie um die aufgeblähten Nasen-
flügel bis zu den leicht emporgezogenen Mundwinkeln hat
fast etwas Blasiertes. Aber die Kopfform an sich ist von
klassischer Schönheit. Wie das Oval des Gesichtes in die
reine Nackenlinie übergeht! Wie Hals- und Schulteransatz
verlaufen! Man glaubt den Torso einer griechischen Statue

1 Unter allen Wangenfiguren, mit Ausnahme von Syrlins Selbstbildnis,
befindet sich an der Bank eine Spruchtafel. Die Riickwandbildnisse halten
verschlungene Spruchbänder. Die Giebelbüsten sind nur durch Attribute
bezeichnet. Abdruck sämtlicher Sprüche bei Pfleiderer: Münsterbuch,
S. 69—70 (Dreisitz) S. 81—100 (Chorgestühl).
 
Annotationen