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Grosjean, Georges [Editor]; Cavelti, Madlena [Editor]
500 Jahre Schweizer Landkarten — Zürich, 1971

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https://doi.org/10.11588/diglit.10984#0006

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Damit hat von Bonstetten einigermaßen die verkehrsgeographi-
sche Struktur der Schweiz erfaßt und sichtbar gemacht.Wenn man das
alles bedenkt, ist die geographische Vorstellungswelt von Bonstettens
keineswegs primitiv. Seine Figuren sind zwar noch nicht eine Karte
im modernen Sinne, aber eine geniale Interpretation der Schweiz.
Fast möchte man sagen, daß von Bonstetten in einer Zeit lebte, in der
man noch grundsätzlich denken konnte und in der nicht vielfältige
Einzelheiten und Kenntnisse den Blick für das Wesentliche einer
Erscheinung trübten.

KONRAD TÜRSTS SCHWEIZER KARTE
UND IHRE ABKÖMMLINGE

Eineinhalb Jahrzehnte nach Albrecht von Bonstetten ist der Durch-
bruch zur Kartographie im modernen Sinne erfolgt. Wieder verfaßt
ein vom Geiste der italienischen Renaissance berührter Humanist eine
Beschreibung der Eidgenossenschaft :Desitu Confoederatorumdescriptio,
1 Über die Lage der Eidgenossen oder Beschreibung Helvetiens samt einer
Landkarte. Der Verfasser ist Konrad Türst aus Zürich, Arzt und
Astrologe, ein vielleicht um ein halbes Jahrzehnt j üngerer Zeitgenosse
Albrecht von Bonstettens, verstorben um dieselbe Zeit wie dieser, am
18. August 1503. Die Matrikel der Basler Universität führt Türst im
Jahre 1470 auf. Sein Doktordiplom der Medizin erhielt er in Pavia am
29. Juli 1482. Später studierte er nochin Ingolstadt. 1482 bis 1485 finden
wir Türst in Bern, wo er sich die Gunst des damals nochj ungen Rudolf
von Erlach erwarb, der bereits die Schulthcißenwürde bekleidet hatte
und dieses Amt noch mehrmals ausüben sollte. 1489 wurde Türst
Stadtarzt in Zürich. In jenen Jahren warb er durch Übersenden ver-
schiedener, vor allem astrologischer Arbeiten um die Gunst der Mai-
länder Herzöge Gian Galeazzo Sforza und Ludovico, genannt il Moro.
Sein Bemühen trug ihm 1493 und 1497 Aufenthalte am Hof in Mai-
land ein, wo er sich anscheinend auch in politischen Geschäften ge-
brauchen ließ. Im Sommer 1499 trat er in den Dienst Maximilians I.,
dessen Leibarzt er wurde. Das kleine Werklein über die Schweiz, das
sich neben von Bonstettens Arbeit dünn und dürftig ausnimmt, ent-
stand samt der Karte, die um so bedeutsamer ist, zwischen 1495 und
1497. Es bestehen heute noch vier Handschriften und Kopien der
lateinischen und der deutschen Fassung. Die Karte liegt nur noch der
lateinischen Handschrift in der Österreichischen Nationalbibliothek
inWienundderdcutschenHandschrift in der ZcntralbibliothckZürich
bei. Zwei weitere Handschriften kamen nach Berlin und Mailand.
Das Wiener Exemplar war Schultheiß und Rat von Bern gewidmet,
wurde aber anscheinend nie abgeliefert und blieb mit Türsts Nachlaß
in Österreich. Das Zürcher Exemplar wurde Rudolf von Erlach zuge-
eignet und lag bis 1875 im Schloß Spiez, von wo es über verschiede-
nen Familienbesitz in die Zürcher Zentralbibliothek gelangte. Leider
ist nirgends bezeugt, woher Türst die Anregung und Kenntnis zum
Kartenzeichnen empfangen hat. Immerhin ist es wahrscheinlich, daß
Oberitalien eine Rolle spielte, wo die Detailkartographie schon neu
aufgeblüht war. Auch war dort die Renaissance der Ptolemäischen
Geographie in vollem Gange. 1477, also kurz vor der Zeit, da Türst
in Pavia studierte, war in Bologna die erste gedruckte Ausgabe des
spätantiken Monumentalwerks erfolgt, wobei die Karten in Kupfer-
stich reproduziert wurden.

Die Ptolcmäische Geographie ist von den Zeitgenossen der Re-
naissance und auch noch in unserer Zeit überschätzt worden. Wahr-
scheinlich ist sie keineswegs repräsentativ für das kartographische
Schaffen des römischen Altertums. Es müssen noch viele andere und
bessere Karten bestanden haben (Lit.26, S.9-19, 29-31). Claudius
Ptolemäus war um die Mitte des 2. nachchristlichen Jahrhunderts
Astronom und Mathematiker in Alexandria in Ägypten und verfaßte
unter anderem, in polemischer Absicht gegen einen andern Wissen-
schafter, eine Anleitung zum Entwerfen von Landkarten aufgrund
von Längen- und Breitenkreisen. Mit dieser Schrift zusammen wurde
im Mittelalter eine Sammlung von Karten anscheinend verschiedener
Herkunft mehrfach kopiert und unter dem Namen des Ptolemäus
sowohl in griechischer wie in lateinischer Version weitergegeben.

Einige der Karten stammen sicher nicht von Ptolemäus. Ob andere
auf ihn zurückgehen, ist heute noch unentschieden. Als Verfasser der
Weltkarte, die der Sammlung zugehört, nennen die Handschriften
einen Agathodämon aus Alexandrien. Im 15.Jahrhundert wurde die
Ptolcmäische Geographie wieder entdeckt und in Buchdruck, Holz-
schnitt und Kupferstich neu herausgegeben. Dabei wurden auch neue
Karten beigefügt. Charakteristisch für die dem ptolemäischen Kom-
plex zugehörigen Karten sind die Gradnetze. Ptolemäus beschreibt
unter anderem eine Kegelprojektion. Die Karte des Agathodämon er-
scheint in den gedruckten Ausgaben des 15. und 16. Jahrhunderts in
zwei Varianten, beide mit gegen die Pole zusammenlaufenden Meri-
dianen. In der einen Variante sind sie gerade (z.B. Bologna 1477, Abb.
in Lit. 26, S.38), in der andern gebogen (z.B. Ulm 1482, Abb. in
Lit. 26, S. 46/47). Die Länderkarten der Ptolemäus-Handschriften zei-
gen in der Regel rechtwinklige, gerade Meridiane und Breitenkreise
ohne Meridiankonvergenz. In den gedruckten Ausgaben des 15. und
16. Jahrhunderts werden in freier Anlehnung an die Theorie desPtole-
mäus Länderkarten entworfen, bei denen die Meridiane geradlinig
nach Norden konvergieren, die Breitenkreise aber nicht als Kreisbo-
gen wie bei echten Kegelprojektionen, sondern geradlinig parallel ver-
laufen. Mannennt solche Karten Trapezkarten. In dieserTradition steht
die Karte von Konrad Türst. Während aber fast alle Trapezkarten der
ältern Ptolemäus-Ausgaben nach Norden orientiert sind, orientiert
Türst seine Karte nach Süden, wie schon von Bonstetten seine sche-
matischen Darstellungen, und begründet damit eine Eigentümlich-
keit, die fast allen ältern Schweizer Karten zukommt. Vielleicht wirk-
ten auch hier die Alpen suggestiv. Man blickt im schweizerischen
Mittclland gegen die Alpen und denkt über sie hinweg nach Italien
und sieht das Land mit Blick nach Süden vor sich liegen. Eduardlmhof
hat in Lit.41, i.Aufl. bei S.224, 2. Aufl. bei S.230, das am Rand der
Türst-Karte angeschriebene Gradnetz durchgezogen und den Trapez-
charakter der Karte sichtbar gemacht. Es wird aus dieser Darstellung
auch klar, daß Gradnetz und Karte nur eine lose Beziehung zueinander
haben. Man war nicht in der Lage, die geographischen Längen und
Breiten vieler Orte zu bestimmen und danach einigermaßen richtige
Karten zu entwerfen. Man übertrug die ptolemäische Theorie, die für
Weltkarten gedacht war, gänzlich unzweckmäßig auf Karten kleinerer
Gebiete. Kein Wunder, daß man damit nicht durchkam. Geographi-
sche Breiten ließen sich zwar anhand des Polarsterns jederzeit und
überall verhältnismäßig leicht und genau ermitteln. Die Messung
geographischer Längenunterschiede hätte aber die Beobachtung des
Zeitunterschiedes der Kulmination der Sonne oder eines Fixsterns an
verschiedenen Punkten erfordert, wozu schon einigermaßen genau ge-
hende Uhren fehlten. Man verfuhr daher so, daß man, durch keiner-
lei geodätische oder astronomische Sachkenntnisse gehemmt, aus den
vom Hörensagen oder eigener Erfahrung bekannten Distanzen zwi-
schen den einzelnen Städten und Orten mit dem Zirkel ein planes Bild
der Erdoberfläche entwarf. Dann legte man auf dieses Bild ein geo-
graphisches Gradnetz nach Ptolemäus beziehungsweise ein Trapez-
netz, wobei man versuchte, dieses Netz mit dem Kartenbild minde-
stens an einer Stelle zur Übereinstimmung zu bringen. Diese Stelle ist
für die Türst-Karte Bern. Der 47.Breitengrad führt südlich - in Wirk-
lichkeit nördlich - an Bern vorbei. Statt aber westlich nach Neuen-
burg zu verlaufen, geht er südlich von Yverdon durch; statt östlich
über den Napf, Brunnen und Bad Ragaz, läuft er über Zürich und
Radolfzell. Das Gradnetz ist also, mit Drehpunkt Bern, gegenüber
dem Kartenbild um 30 bis 40° in positivem Sinne gedreht. Die geo-
graphische Breite von Bern mochte Türst selbst oder ein Gewährs-
mann an Ort und Stelle gemessen haben. Die Länge von 26° 30' dürfte
einer der damals kursierenden Karten in kleinerem Maßstabe ent-
nommen sein. Das Gradnetz Türsts stimmt maßstäblich nicht mit
dem Kartenbild überein. Während das Kartenbild einen mittleren
Maßstab von ± 1:500 000 ergibt, entsprechen die Abstände der Grade
und Minuten am Rand nur ungefähr einem Maßstab von 1:600000.
Außerdem zeigt die Eintragung des Verlaufs der wirklichen Meridiane
in das Kartenbild Türsts keinerlei Konvergenz gegen Norden. Die
Karte ist also entgegen dem am Rand angedeuteten Gradnetz nicht
in einer Kegelprojektion entworfen.

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