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Grosjean, Georges [Hrsg.]; Cavelti, Madlena [Hrsg.]
500 Jahre Schweizer Landkarten — Zürich, 1971

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https://doi.org/10.11588/diglit.10984#0024

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macht möglich, daß Ardüser in dieser Zeit schon für die Truppen in
Graubünden tätig war. Nachdem im Vertrag von Monsonio 1629
die Lage wiederhergestellt und die österreichischen Feldbefestigungen
auf der St. Luziensteig und bei der Tardisbrücke geschleift worden
waren, wurden von bündnerischcr Seite diese Gebiete neu befestigt,
wobei Johannes Ardüser leitender Ingenieur war. Von dicsenWerken
sind die Reste der sogenannten Rohanschanze unweit des Zusammen-
flusses von Landquart und Rhein noch heute sichtbar. Wenn Hans
Konrad Gyger für den 1635 erschienenen I.Band des Theatrum Euro-

122 paeum von Matthäus Merian (Lit. 39) eine Vogelschauvedute des
Gebietes Luziensteig-Chur-Davos-Prättigau mit bildhafter
Eintragung der Kampfhandlungen des Prättigauer Aufstandes von
1622 lieferte, so dürfte dies auf die Verbindung zu Ardüser hinweisen.
Die Prättigau-Kartc Gygers erweist sich bei genauerer Untersuchung
in ihrer Situation als freie Nachzeichnung nach der Karte von Sprecher-
Clüvcr. Gyger hat auch die traditionellen Ortskrcislcin übernommen.
Die Proportionen sind weniger gut als bei Sprccher-Clüver. Es ging
offenbar gar nicht darum, eine Karte zu entwerfen, sondern nur
eine bildhafte, künstlerisch frei gestaltete Ansicht. Die Auswahl der
Ortsnamen entspricht ziemlich genau Sprecher-Clüver. Gelegentlich
finden sich Verschreibungen, wie Frosa bei Gyger statt Erosa (Arosa)
bei Sprecher. Ergänzt hat Gyger vor allem zahlreiche Burgen, Ruinen
und natürlich die Befestigungen, die im Kriege eine wichtige Rolle
spielten. Dabei scheint der Irrtum unterlaufen zu sein, daß Gyger
bereits die Ardüserschen Befestigungen einzeichnete. Die Schanze
mit vier Eckbastionen bei der Landquartmündung ist offensichtlich
bereits die «Rohanschanze». Die frühere österreichische Schanze an
dieser Stelle war eine fünfzackige Sternschanze mit Ravelins. Die
Prättigau-Karte Gygers ist also offenbar nicht 1622, sondern erst um
1634 entstanden, für den nach dem II. Band nachholend erschienenen
I.Band des Theatrum. Der II.Band umfaßt die Ereignisse von 1629
bis 1633, der I.Band diejenigen von 1617 bis 1628. Die österreichi-
schen Befestigungen aus der Zeit vor 1629 erkennt man auf dem
Blatt Grafschaft Sargans im II. Band des Theatrum Europaeum von
163 3 und in der ebenfalls unsignierten Karte bei S. 80 der Topographia
He Ivetiae. Auch die Sperre aufder Luzienstcigisthier anders gezeichnet.

Die besondere Leistung besteht darin, daß Gyger fähig war, die
primitiveHöckcrdarstellungderSprechcr-Clüver-Karteineinenatur-
getreucre Schrägansicht von oben mit zusammenhängenden Ketten
und der Wirklichkeit einigermaßen entsprechenden Talwcitungcn
und Talcngnissen zu übersetzen. Hier muß ein gehöriges Stück eigener
Anschauung mitgewirkt haben, sei es von Gyger selbst oder von
Ardüser. Immerhin ist diese Art der Darstellung nicht Gygers Er-
findung. Sic tritt in Mcrians Theatrum Europaeum und in der späteren
Topographie ziemlich häufig auf, und es fehlen uns die Anhaltspunkte,
daß die Zeichner alle von Gyger beeinflußt gewesen wären, wie
Weisz annimmt. Auch ist es wohl nicht richtig, ähnliche Vogelschau-
ansichten, die nicht signiert sind, wie die bereits erwähnte Graß-
schafft Sargans im II. Band des Theatrum (1633) und Das Landt Unter-
waiden in der Topographia Helvetiae (S.42), ohne weiteres für Gyger
in Anspruch zu nehmen (Lit.41, i.Aufl. S.137 und 139, 2. Aufl.
S. 142/143). Die Darstellung Untcrwaldcns zeigt stilistisch, zum Bei-
spiel in der Darstellung des Waldes, so große Ähnlichkeit mit der
Abbildung der 4. Waldtstätten See, die in der Topographia Helvetiae von
der Auflage von 1654 an bei S.36 eingeheftet ist, daß man auf ge-
meinsame Autorschaft schließen muß. Diese bei Merian ebenfalls
unsignierte Tafel ist aber ein nur in geringfügigen Einzelheiten ver-
änderter Nachstich der entsprechenden Darstellung des Luzerner
Gelehrten und Ratsherrn Leopold Cysat, welche von diesem 1645
selbständig als Beilage zu seiner Beschreibung deß Berühmbten Lucemer
oder vier Waldstätten-Sees... im Stich von Clemens Bcutlcr erscheinen
ließ. Dieser arbeitete ebenfalls für Merian. Von ihm signiert sind unter
anderem zwei Karten der Herrschaften Reichenau und Windthag in
Niederösterreich, die im Anhang zur Topographia Austriae erschie-
nen und 1654 datiert sind. Sie zeigen ebenfalls eine recht gute Dar-
stellung der Höhenzüge und Täler in steiler Schrägansicht von oben.
15 Wir geben die Karte Cysats in der ursprünglichen, selbständigen

118 Fassung wieder. Das Verzerrungsgitter zeigt, daß es sich nicht um

eine Karte mit Grundrißvermessung, sondern um eine freie Vogel-
schaukomposition von Norden mit zentralperspcktivischcr Verkür-
zung nach der Tiefe handelt. Der größte Teil der Karte scheint vom
Rigigipfel aus gezeichnet worden zu sein. Die östlichen Partien, von
einem andern Standort aufgenommen, wurden unrichtig angefügt.
Diese Secdarstellung, so unvollkommen sie noch war, bedeutete
einen gewaltigen Fortschritt gegenüber allen bisherigen Darstellun-
gen dieses so schwer erfaßbaren Sees und übte auf die Gesamtkarten
der Schweiz des 17. und 18. Jahrhunderts einen nachhaltigen Einfluß
aus. Typisch sind der verkürzte breite Alpnachersee und der nach
Osten stark abgewinkelte obere Teil des Urnersees, beides Folgen
der perspektivischen Sicht von einem verhältnismäßig tiefen Stand-
ort aus. Die über den See gezogenen geraden Linien sind keineswegs
etwa Strahlen einer graphischen Triangulation, sondern sollen wohl
Schiffsverbindungen darstellen.

Es geht nicht an, hier überall einen Einfluß Gygers feststellen zu
wollen, wenn auch Gygers Arbeiten zum Teil früher anzusetzen sind
(Weisz, Lit.41, i.Aufl. S. 138, 2.Aufl. S.146). Viel eher fußen alle
diese Arbeiten samt denjenigen Gygers in einer gemeinsamen Tradi-
tion, nämlich derjenigen der süddeutschen Landtafelmalerei. Diese ganze
Gruppe großartiger Werke, die fast zu gleichen Teilen der Karto-
graphie und der Landschaftsmalerei angehören, ist in neuerer Zeit
vor allem durch Ruthardt Oehme (Lit. 35 und 36) in ihrer Bedeutung
erkannt und dargestellt worden. Wir haben für den schweizerischen
Leser in Lit. 26, S. 124, einen Ausschnitt aus der Wangener Landtafel
von Johann Andreas Rauch von 1616 abgebildet und besprochen, da-
mit der Vergleich mit der Darstellungsart Hans Konrad Gygers ge-
zogen werden kann. Das Malen von Kartengemälden ganzer Gebiete
von Städten und Fürstentümern kam in Süddeutschland schon im
16. Jahrhundert auf und endete mit der Lindauer Landtafel von 1626/
1629 von Johann Andreas Rauch. Die Landtafcln sind meist in großen
Dimensionen und Maßstäben gehalten, in Öl oder Tempera gemalt.
Die Wangener Tafel mißt 207 X 290 cm und entspricht einem Maß-
stab von 114000 bis 1:4500. Die Aufnahme erfolgte im Gelände mit
Kompaß und Schrittmessung, bei wichtigeren Grenzverläufen mit
Mcßkctte. Die Landtafeln zeigen das, was wir als jüngere, natur-
ähnliche Kavalicrpcrspcktive bezeichnen möchten. Sie sind nicht
Vogclschaukarten, sondern Kombinationen von Grundriß und Vogel-
schau. Wie bei den ältern kavalicrperspektivischen Karten sind Ge-
wässer und Situation - mindestens der Absicht nach - maßstäblich
grundrißgetreu entworfen. Ortschaften, Baumsignaturen und Ge-
birge aber, die bei den ältern und primitivem Kartographen mehr
oder weniger manieriert und signaturenhaft in Seitenansicht gezeich-
net wurden, sind hier in eine naturgetreue Schrägansicht von oben
gebracht. Dies setzte eine nicht geringe Vorstellungskraft voraus.
Ansätze zu dieser Darstcllungsart finden sich bereits bei Jos Murer
1566 und in der Bayernkarte Philipp Apians von 1568, die vom
Zürcher Formschneider Jost Ammann in Holz geschnitten wurde.
Zürich hat also an der Entwicklung dieser Darstcllungsart einen ge-
wissen Anteil. Aber es ist doch eine Ungeheuerlichkeit und außerdem
eine chronologische Verwirrung ohnegleichen, wenn Leo Weisz
(Lit.41, i.Aufl. S. 132, 2. Aufl. S. 138) den genialen Johann Andreas
Rauch, den letzten der großen süddeutschen Landtafclmaler, und den
Schöpfer der großen Württemberger Landtafel, Wilhelm Schickhart,
schlicht zu Epigonen der«Zürcher Schule»stempelt, die über Ardüser
und Schavalitzki in Württemberg Eingang gefunden haben sollte.
Rauch schuf die prachtvolle Wangener Landtafel 1616, als Gyger
siebzehn Jahre alt und Ardüser noch gar nicht in Zürich war. Einige
typische malerische Eigenheiten, vor allem in der Farbskala, die in
Gygers großer ölgemalten Kantonskartc von 1667 auftreten, findet
man bereits in der Wangener Landtafcl, so die Verwendung eines
tiefen Blaugrüns für die Niederungen und gclbgrüne Töne für die
erhöhten Partien. Es ist damit dem luftperspektivischen Effekt Rech-
nung getragen, daß zufolge der unterschiedlichen Durchlässigkeit
der Lufthülle für die verschiedenen Komponenten des Lichtspektrums
nahe Landschaftspartien gelber, tiefere blauer erscheinen. Demgemäß
müssen beim Blick von oben auch höhere Partien gelber, tiefere
blauer erscheinen. Ob die Landtafelmaler dies bewußt oder aus

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