II: GOETHE
GOETHES Verhältnis zu Shakespeare wird, im Gegensatz zu *
dem aller anderen deutschen Klassiker, von vornherein dadurch
bestimmt daß er eine durchaus schöpferische Natur war. Wie
bei Herder die Gefühls?empfänglichkeit, bei Wieland die Geschmäck?
lerei, bei Lessing die Kritik auch das Schaffen bestimmte, so bestimmte
bei Goethe das-Schöpfertum auch seine Einsichten, seine Urteile und
seinen Geschmack. Seine Empfänglichkeit, nicht minder universal als
die Herders, ist nicht Suche nach etwas „woran er seinen Verstand üben
könne oder worin sein Gefühl sich ausbreiten könne, sondern nach
Stoff an dem er bilden könne. Jene abstrakte Suche nach der Wahr?
heit, jene Aufnahmelust um ihrer selbst willen war nie seine Sache.
»Was fruchtbar ist, allein ist wahr«, »Ich halte für wahr, was mich
fördert« — nach diesen beiden Sätzen hat er, dämonisch getrieben, be?
wußt oder unbewußt, sein Leben lang gehandelt und geschaffen, und
wenn er in der Jugend noch dumpf und unsicher sich an vielem ver?
suchte was ihm nicht gemäß war, wenn er manches aufnahm was er
später gewaltsam oder friedlich abzustoßen sich genötigt sah, so waren
dies eben Experimente eines jungen Schöpfers, der seine eigene Fülle
und Kraft noch nicht übersieht. Es waren die »falschen Tendenzen«,
von denen er selber doch gesteht, daß sie ihn in anderer Richtung als
der eingeschlagenen und gemeinten gefördert haben. Nur in der grö?
ßeren Sicherheit und Helle des Aufnehmens zum Zweck des Bildens ist
zwischen dem dämonisch?genialen jungen Goethe und dem klassischen
Weisen ein Unterschied. Die Richtung war dieselbe in seinen unge?
stümen Brausejahrenjwie in denen da er an der Pyramide seines Da?
seins mit bewußter Ökonomie und Selbstzucht baute. In diesem Le?
ben ist mancher Verzicht auf allzu titanisches Wollen, aber kein Bruch,
manche Abkehr von Substanzen die ihm einst zum Aufbau seines
Wesens brauchbar schienen, aber keine Umkehr auf dem Wege seiner
Bildung. Sein Begriff Bildung selbst — den man recht durchdenken
sollte, um zu fühlen welches Leben diesen Begriff füllte und formte,
ehe es zu jenem flachen und niedrigen Allerweltswort wurde als das
man es heute mißbraucht (bis zu der Albernheit einer »allgemeinen
Bildung« oder »Volksbildung«: contradictio in adjecto!) — sein Be?
GOETHES Verhältnis zu Shakespeare wird, im Gegensatz zu *
dem aller anderen deutschen Klassiker, von vornherein dadurch
bestimmt daß er eine durchaus schöpferische Natur war. Wie
bei Herder die Gefühls?empfänglichkeit, bei Wieland die Geschmäck?
lerei, bei Lessing die Kritik auch das Schaffen bestimmte, so bestimmte
bei Goethe das-Schöpfertum auch seine Einsichten, seine Urteile und
seinen Geschmack. Seine Empfänglichkeit, nicht minder universal als
die Herders, ist nicht Suche nach etwas „woran er seinen Verstand üben
könne oder worin sein Gefühl sich ausbreiten könne, sondern nach
Stoff an dem er bilden könne. Jene abstrakte Suche nach der Wahr?
heit, jene Aufnahmelust um ihrer selbst willen war nie seine Sache.
»Was fruchtbar ist, allein ist wahr«, »Ich halte für wahr, was mich
fördert« — nach diesen beiden Sätzen hat er, dämonisch getrieben, be?
wußt oder unbewußt, sein Leben lang gehandelt und geschaffen, und
wenn er in der Jugend noch dumpf und unsicher sich an vielem ver?
suchte was ihm nicht gemäß war, wenn er manches aufnahm was er
später gewaltsam oder friedlich abzustoßen sich genötigt sah, so waren
dies eben Experimente eines jungen Schöpfers, der seine eigene Fülle
und Kraft noch nicht übersieht. Es waren die »falschen Tendenzen«,
von denen er selber doch gesteht, daß sie ihn in anderer Richtung als
der eingeschlagenen und gemeinten gefördert haben. Nur in der grö?
ßeren Sicherheit und Helle des Aufnehmens zum Zweck des Bildens ist
zwischen dem dämonisch?genialen jungen Goethe und dem klassischen
Weisen ein Unterschied. Die Richtung war dieselbe in seinen unge?
stümen Brausejahrenjwie in denen da er an der Pyramide seines Da?
seins mit bewußter Ökonomie und Selbstzucht baute. In diesem Le?
ben ist mancher Verzicht auf allzu titanisches Wollen, aber kein Bruch,
manche Abkehr von Substanzen die ihm einst zum Aufbau seines
Wesens brauchbar schienen, aber keine Umkehr auf dem Wege seiner
Bildung. Sein Begriff Bildung selbst — den man recht durchdenken
sollte, um zu fühlen welches Leben diesen Begriff füllte und formte,
ehe es zu jenem flachen und niedrigen Allerweltswort wurde als das
man es heute mißbraucht (bis zu der Albernheit einer »allgemeinen
Bildung« oder »Volksbildung«: contradictio in adjecto!) — sein Be?