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III: STÜRMER und DRÄNGER
DOCH ehe wir den weiteren Weg Goethes verfolgen, überblicken
wir noch die unmittelbaren Wirkungen von Goethes Götz und
Werther auf die übrigen Stürmer und Dränger, sofern diese
Wirkungen mittelbare Wirkungen Shakespeares sind. Denn von um
mittelbaren Einwirkungen Shakespeares auf Stil und Technik und Ge*
sinnung der Stürmer und Dränger kann man, von ein paar sekundären
Äußerlichkeiten der Sprache abgesehen, kaum reden. Was auf sie
wirkte, wirkte wesentlich durch Goethe und durch Herder. Die ein*
zelnen Individualitäten dieser Bewegung, die uns nicht als solche an*
gehen, da wir es nur mit der Tendenz die sie vertreten zu tun haben,
sind bestimmt durch die Mischung mit anderen Elementen der Zeit.
Einige lasen mehr die Natur aus Shakespeare heraus, andere mehr die
Freiheit, andere die Leidenschaft. Einige dichteten aus Gesinnungen,
andere aus Zwecken, andere aus Affekten. Man kann den Sturm und
Drang enger fassen: als eine bestimmte Bewegung mit bestimmten Ge*
danken oder Gefühlsinhalten, oder weiter: als ein Tempo, als einen
Wirbel des deutschen Geistes in welchen alles mitgerissen wurde was
sich nicht bewußt entgegenstellte. Je nach ihrem persönlichen Term
perament nahmen die verschiedenen Mitglieder des Kreises dasjenige
aus Goethes Werken auf was ihnen am gemäßesten war und verwarn
delten, d. h. erniedrigten, verzerrten oder übertrieben es.
Leisewitz gehört als Charakter nicht in den engeren Sturm und Drang,
er ist ein wesentlich intellektuell gerichteter Geist aus der'Nachfolge
Lessings, der die Konsequenz aus der Lockerung der Regeln zog und
von Lessings Standpunkt aus in der Praxis dahin gelangte wohin die
anderen über Herders Theorie und Goethes Beispiel gelangt waren:
die Regeln zu verwerfen, aus Natur, Leben, Leidenschaft heraus zu
dichten und sich Freiheiten aller Art zu gestatten. Für Leisewitz be*
deutete Shakespeare etwa dasselbe wie für Lessing. Stürmer und
Dränger war er weniger durch die neue Leidenschaft als durch die
neue Freiheit und den neuen Enthusiasmus. Zwischen Leisewitz und
Lessing lag allerdings der ganze Umsturz der Zweck*ästhetik, und auch
Leisewitz profitierte davon daß Shakespeare jetzt nicht mehr bloß als
vernunftvollster Tragiker galt, sondern auch Vorbild war für alle die
 
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