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II: DER RATIONALISMUS

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Zeitalter, und zwar meist dann, wenn die Sprache gerade beweglich
und reich genug geworden ist, und die Organe der Erkenntnis selb*
ständig geworden sind, wenn sie nicht mehr die nackte Notdurft der
Vernunft, das Erkennen und das Ordnen zu befriedigen haben, sondern
freie Zeit gewinnen. Dann gehen sie Umwege, geben Rätsel auf und
lösen sie, ersinnen Spitzfindigkeiten und putzen die Begriffe auf. Der
emanzipierte Verstand sucht sich immer neue, spitzfindigere Aufgaben,
künstlichere Wendungen, gewagtere Spiele. Dann ergreift immer der
Sprachgewandteste und Vorstellungsreichste, also derjenige welcher am
meisten Material zu Verschränkungen und Verzierungen hat, die Herr*
schäft.. nur daß auch hier das Spielen mit Bildern und Begriffen nicht
eine reine Äußerung des Spieltriebes ist, sondern selbst wieder als
Pflicht, als Bewußtsein auftritt. Auch das Spiel ist hier nicht eine un*
bewußte Äußerung der entbundenen Lebenskraft, sondern untersteht
der Kontrolle des Verstandes, der mit seinen eigenen Künsten kokettiert.
Sobald der Verstand merkt daß die Phantasie seiner Kontrolle zu
entrinnen droht, sobald er durch das Geschling der spielerischen Schnör*
kel nicht mehr klar blickt und seine zwei Hauptforderungen, Ordnung
und Faßlichkeit, gefährdet sieht durch das Zuviel des Schmuckes, be*
ginnt er sich zu wehren und nimmt den Kampf gegen die Verstandes*
mäßige Phantasie auf, gegen seine eigene Wucherung, die ihm über
den Kopf zu wachsen droht, wie gegen den Erbfeind, die Leidenschaft.
Die Reaktion gegen den Schwulst in Deutschland, zunächst durch
Wernicke und Weise, später durch Gottsched vertreten, ist weniger
der Kampf gegen ein an sich feindliches Prinzip als eine Art Selbst*
schütz des Rationalismus gegen seine eigene Ausartung. Sein kritisches
Rüstzeug bei dieser Reaktion und Hygiene ist mehr Operationsmesser
als Schwert, kurz: das Wesen des Rationalismus wehrt sich gegen
seine Begleiterscheinungen.
Diese Reaktion konnte negativ oder positiv sein, sie konnte sich mit
der Wegschneidung des Auswuchses begnügenund nachAusscheidung
aller Phantasie dem nackten gesunden Menschenverstand seinen Lauf
lassen zu seinen Zwecken Erkenntnis und Belehrung — oder sie konnte
dem Verstand eine straffere Organisation geben, ihm eine strengere
Kontrolle über alle Seelenkräfte ermöglichen. Man konnte den Ver*
stand als eine Gabe oder als eine Pflicht betrachten. Den ersten Stand*
 
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