Anhang II
DER MORISKENTANZ
Als das Tanzhaus in München, heute gemeinhin das alte Rathaus genannt, durch
Meister Jörg seiner Vollendung entgegenging, stellte 1480 in dem prächtigen Saal mit
seiner weit geschwungenen Holzsprengdecke Erasmus Grasser seine sechzehn „pilden
maruska tanntz“ auf, die unvergleichlichen Verkörperungen ausgelassenster Lebens-
freude und unübertroffenen Höhepunkte der Profanbildnerei des ausgehenden Mittel-
alters in Deutschland. In Unkenntnis des sachlichen Zusammenhangs pflegte man diese
köstlichen Gestalten mit ihren phantastischen, reich mit Schellen ausgestatteten Ko-
stümen, ihren grotesken Sprüngen und grimassierenden Gesichtern kurzweg Narren
zu benennen und glaubte den Tanz bald als einen Vorläufer des altbayerischen Schuh-
plattlers, bald als einen ungarischen Tanz und endlich, verführt durch einen gewissen
Gleichklang, als einen polnischen Mazurka ansehen zu sollen, zu dessen Darstellung der
bayerische Hofmaler Jan Pollak, also ein Pole, den Bildhauer Erasmus Grasser an-
geregt hätte.
Es handelt sich nun aber bei diesem Maruskatanz überhaupt nicht um einen slavi-
schen Tanz, sondern um die Moriska, einen Tanz, der sich etymologisch von den Mau-
ren oder Morisken ableitet und im Mittelalter, wie es scheint, über den ganzen europäi-
schen Kontinent verbreitet war, ja sich sogar bis auf unsere Tage in fast nicht mehr als
Moriska erkenntlichen Ausläufern erhallen hat.
Eine Geschichte des Moriskentanzes ist noch nicht geschrieben, obwohl sie sich als
ein wertvolles, für Literatur- und Kunstgeschichte wie für die Kulturgeschichte und
Volkskunde gleich aufschlussreiches Kapitel hätte erweisen müssen. Zu dieser Annahme
berechtigt wenigstens das reiche, freilich nur sehr bruchstückweise und zumeist im
Auslande weit zerstreute Material. Gerade dem Umstande, dass die Fäden des Moris-
kentanzes sich in die verschiedensten Gebiete verzweigen, ist es wohl auch in erster
Linie zuzuschreiben, dass bisher kaum versucht wurde, seine Entstehung aufzuhellen
und sein Wesen und seine Bedeutung — wenigstens in seinen Anfängen — zu er-
gründen.1
1 Die deutsche Literatur beschäftigte sich nur sehr wenig mit dem Moriskentanz; die Angaben sind meist
sehr dürftig. Erwähnt seien Albert Czerwinski, Geschichte der Tanzkunst, Leipzig 1862, S. 216. Czerwinski
fusst auf den später zu erwähnenden Abhandlungen von George Tollet und Francis Douce. Ferner Franz
M. Böhme, Geschichte des Tanzes in Deutschland I (Leipzig 1886) S. 132, und Oskar Bie, Der Tanz, Berlin
1906, S. 139. — Von weit grösserer Bedeutung ist die ausserordentlich reiche englische Literatur über den
Moriskentanz, die sich vorzugsweise in den Kommentaren zu Shakespeare findet. Als wichtigste Quellen
wurden berücksichtigt, ohne jedesmal im einzelnen zitiert zu werden: The plays of William Shaskcpeare,
in Sleevens edition V (1778). Hier S. 425—434 George Tollets Ausführungen über das später erwähnte be-
rühmte Glasgemälde zu Betley in Staffordshire, nebst einem Stich nach demselben. Offenbar identisch
damit, d. h. eine spätere Ausgabe, die gewöhnlich zitiert wird, aber mir nicht zu beschaffen gelang:
The plays of William Shakespeare wilh noies by Samuel Johnson and George Sleevens, London, VIII
(1793) S. 596—606. — Francis Douce, Illustralions of Shakespeare and of ancienl manners, London 1807.
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DER MORISKENTANZ
Als das Tanzhaus in München, heute gemeinhin das alte Rathaus genannt, durch
Meister Jörg seiner Vollendung entgegenging, stellte 1480 in dem prächtigen Saal mit
seiner weit geschwungenen Holzsprengdecke Erasmus Grasser seine sechzehn „pilden
maruska tanntz“ auf, die unvergleichlichen Verkörperungen ausgelassenster Lebens-
freude und unübertroffenen Höhepunkte der Profanbildnerei des ausgehenden Mittel-
alters in Deutschland. In Unkenntnis des sachlichen Zusammenhangs pflegte man diese
köstlichen Gestalten mit ihren phantastischen, reich mit Schellen ausgestatteten Ko-
stümen, ihren grotesken Sprüngen und grimassierenden Gesichtern kurzweg Narren
zu benennen und glaubte den Tanz bald als einen Vorläufer des altbayerischen Schuh-
plattlers, bald als einen ungarischen Tanz und endlich, verführt durch einen gewissen
Gleichklang, als einen polnischen Mazurka ansehen zu sollen, zu dessen Darstellung der
bayerische Hofmaler Jan Pollak, also ein Pole, den Bildhauer Erasmus Grasser an-
geregt hätte.
Es handelt sich nun aber bei diesem Maruskatanz überhaupt nicht um einen slavi-
schen Tanz, sondern um die Moriska, einen Tanz, der sich etymologisch von den Mau-
ren oder Morisken ableitet und im Mittelalter, wie es scheint, über den ganzen europäi-
schen Kontinent verbreitet war, ja sich sogar bis auf unsere Tage in fast nicht mehr als
Moriska erkenntlichen Ausläufern erhallen hat.
Eine Geschichte des Moriskentanzes ist noch nicht geschrieben, obwohl sie sich als
ein wertvolles, für Literatur- und Kunstgeschichte wie für die Kulturgeschichte und
Volkskunde gleich aufschlussreiches Kapitel hätte erweisen müssen. Zu dieser Annahme
berechtigt wenigstens das reiche, freilich nur sehr bruchstückweise und zumeist im
Auslande weit zerstreute Material. Gerade dem Umstande, dass die Fäden des Moris-
kentanzes sich in die verschiedensten Gebiete verzweigen, ist es wohl auch in erster
Linie zuzuschreiben, dass bisher kaum versucht wurde, seine Entstehung aufzuhellen
und sein Wesen und seine Bedeutung — wenigstens in seinen Anfängen — zu er-
gründen.1
1 Die deutsche Literatur beschäftigte sich nur sehr wenig mit dem Moriskentanz; die Angaben sind meist
sehr dürftig. Erwähnt seien Albert Czerwinski, Geschichte der Tanzkunst, Leipzig 1862, S. 216. Czerwinski
fusst auf den später zu erwähnenden Abhandlungen von George Tollet und Francis Douce. Ferner Franz
M. Böhme, Geschichte des Tanzes in Deutschland I (Leipzig 1886) S. 132, und Oskar Bie, Der Tanz, Berlin
1906, S. 139. — Von weit grösserer Bedeutung ist die ausserordentlich reiche englische Literatur über den
Moriskentanz, die sich vorzugsweise in den Kommentaren zu Shakespeare findet. Als wichtigste Quellen
wurden berücksichtigt, ohne jedesmal im einzelnen zitiert zu werden: The plays of William Shaskcpeare,
in Sleevens edition V (1778). Hier S. 425—434 George Tollets Ausführungen über das später erwähnte be-
rühmte Glasgemälde zu Betley in Staffordshire, nebst einem Stich nach demselben. Offenbar identisch
damit, d. h. eine spätere Ausgabe, die gewöhnlich zitiert wird, aber mir nicht zu beschaffen gelang:
The plays of William Shakespeare wilh noies by Samuel Johnson and George Sleevens, London, VIII
(1793) S. 596—606. — Francis Douce, Illustralions of Shakespeare and of ancienl manners, London 1807.
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