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gen 23 Uhr, die Fenster sind geöffnet. Im Bett ein greiser Mensch mit
schütter-wirrem Haar; eine Erkältung, so schien es am Tag, hat ihn ge-
schwächt. Schläft er jetzt? Die wenigen Leute im Zimmerchen - eine
junge Frau, zwei junge Männer und die Mutter der vorigen - glauben, er
schlafe, während er in Wahrheit doch entschlafen ist, sanft und ohne die
Wut, die den in sich Eingesperrten zuvor im Leben manchmal überfiel.

Einige wenige Freunde und Angehörige des Toten kümmern sich an-
derntags um jene Formalitäten, die dem Tod ein ordendiches, das Alltags-
leben kaum störendes Aussehen geben; die Lokalzeitung veröffendicht eine
kurze Notiz, in der unter anderm zu lesen ist, »nach kurzem blendenden
Aufleuchten« habe des Verstorbenen Geist »sich mit Nacht umzogen«; die
Arzte aber sind daran interessiert, die Umnachtung vernünftig erklären zu
können und halten als ein Ergebnis der alsbald angeordneten Leichenöff-
nung fest: »Das Gehirn war sehr vollkommen und schön gebaut, auch ganz
gesund, aber eine Höhle in demselben, der Ventriculus septi pellucidi, war
durch Wasser sehr erweitert, und die Wandungen ganz verdickt und fest
geworden... «2

Zwei Tage drauf wird der Mann, der in seinem langen am Flußufer im
Turm verbrachten Leben — wie um mit Rollenspielen die Langeweile zu
vertreiben — sich mal Rosetti, mal Killalusimeno, mal Scardanelli nannte,
zu Grabe getragen.3 Der Tote hatte zwar im lichteren Teil seiner Existenz,
und dieser lag weit weit zurück, am Ort studiert, jetzt aber läßt man die
ansonsten üblichen »Insignien einer akademischen Leiche« beiseite. Stu-
denten, man hatte sie dazu aufgefordert, gehen hinter dem Sarg, einige
ferne Verwandte, zwei Bibliothekare, ein junger, rasch vergessener Dich-
ter. Die Tübinger Liedertafel singt etwas Frommes, ein junger Freund des
Toten, Christoph Theodor Schwab, hält die Grabrede. »Ja, wir wollen
es uns«, so redet er tapfer die Versammelten an, »recht deutlich vor das
Gedächtnis rufen, was dieser reiche Geist einst war, dessen Hülle wir nun
versenken... «T Der Gegensatz zwischen Hülle und Geist, den der Redner
mit der glücklosen Wendung vom vergangenen geistigen Reichtum ver-
band, hat der Erinnerung der Zeitgenossen wohl kaum ein Licht aufge-
steckt. Wer von den jungen Studenten wußte schon, was dieser verrückte
Alte geschrieben hatte, den sie gern, als er noch durch die Tübinger Gassen
schlich, neckten und an dessen Grube sie sich nun drängten? Es sollen an
die hundert gewesen sein.

Ein letztes Bild: Wieder ist es ein Novembertag, aber das Jahr zählt
1811; ein großes, aufgeregtes Gerenne da draußen am Stolpschen Loch,
entsetzte Gesichter; auf der Machnowschen Heide, »in einer kleinen Gru-
be«, liegen zwei Tote. Sie mitten ins Herz geschossen, er — wie erst die
wenig später erfolgte Obduktion zeigt - mit einer Kugel im Hirn. »In der

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