DOI Heft:
Nr. 26
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.44908#0409
Nr. 26. HEIDELBERGER 1866.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Zur griechischen Historiographie. I.
Γενική ιβτορία τής ελληνικής έπαναΰτάβεως υπό Λάμπρου Κουτ-
ό ο νίκα. Άΰ. 1864.
Nicht ohne Grund beklagte sich Graf Kapodistrias, dass die
Griechen, ehe sie das Alphabet kennen, den Plato studiren wollen.
Der Sinn des Volks geht mehr in’s Weite, als in die Tiefe; seine
Lerabegier ist mit einer Ungeduld gepaart, die alle Etappen der
Gründlichkeit zu überspringen trachtet. Gegen diese Richtung des
griechischen Volksgeistes wird die Beschäftigung mit der eigenen
Vergangenheit; die Historiographie ein vortreffliches Korrektiv ab-
geben. Denn der Historiker pflegt kläglich zu scheitern, der es
nur so obenhin abmachen, und sich mit dem historischen Stoff
spielend auseinandersetzen will. Publicistische Leichtfertigkeit und
echtes historisches Studium sind unvereinbar.
Den Griechen, die sich von der Arena der Tageskämpfe weg-
wenden um in der Wissenschaft Klarheit und Trost über die Ver-
kümmerung der Gegenwart zu suchen, bieten die Ereignisse des
Freiheitskampfes wider die Türken einen würdigen und fesselnden
Stoff dar. In dieser Richtung haben sich Philimon und Tri-
kupis mit vielem Glück versucht. Namentlich Trikupis hat in
seiner Geschichte des griechischen Aufstandes die Klippen geschickt
vermieden an denen so manche seiner Vorgänger wieSoutzos undRhizo
Neroulos gescheitert sind. Unbeirrt von den heftigen Parteileiden-
schaften der Gegenwart, frei von dem Hang zum Wunderbaren,
der gewöhnlichen Räuberzügen die Bedeutung grossartiger Frei-
heitsschlachten beilegt, und frei von der unerschöpflichen Fabellust
seines Volkes, berichtet er das Geschehene mit besonnenem Maass-
halten und mit einer wahrhaft genialen Nüchternheit. Indem wir
diesem Führer folgen, haben wir das beruhigende Bewusstsein,
dass wir langsam weiter kommen; mitunter denselben Weg zwei-
mal unternehmen müssen, aber niemals den Faden des Ganzen
verlieren oder in einem Gestrüpp von Einzelnheiten uns verirren
werden. Schwerer zu bewältigen ist selten ein historischer Stoff
als der, welcher den Vorwurf des Trikupis’schen Werkes bildet.
Dem Zikzak des Blitzes vergleichbar lief der Aufstand über das
ganze illyrische Dreieck, flackerte bald auf jener Insel, leuchtete
bald auf dieser Bergspitze empor, ward bald gelöscht, bald verband
er sich mit der Gluth des benachbarten Ländchens um zur gewal-
LIX. Jahrg. 6. Heft. 26
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Zur griechischen Historiographie. I.
Γενική ιβτορία τής ελληνικής έπαναΰτάβεως υπό Λάμπρου Κουτ-
ό ο νίκα. Άΰ. 1864.
Nicht ohne Grund beklagte sich Graf Kapodistrias, dass die
Griechen, ehe sie das Alphabet kennen, den Plato studiren wollen.
Der Sinn des Volks geht mehr in’s Weite, als in die Tiefe; seine
Lerabegier ist mit einer Ungeduld gepaart, die alle Etappen der
Gründlichkeit zu überspringen trachtet. Gegen diese Richtung des
griechischen Volksgeistes wird die Beschäftigung mit der eigenen
Vergangenheit; die Historiographie ein vortreffliches Korrektiv ab-
geben. Denn der Historiker pflegt kläglich zu scheitern, der es
nur so obenhin abmachen, und sich mit dem historischen Stoff
spielend auseinandersetzen will. Publicistische Leichtfertigkeit und
echtes historisches Studium sind unvereinbar.
Den Griechen, die sich von der Arena der Tageskämpfe weg-
wenden um in der Wissenschaft Klarheit und Trost über die Ver-
kümmerung der Gegenwart zu suchen, bieten die Ereignisse des
Freiheitskampfes wider die Türken einen würdigen und fesselnden
Stoff dar. In dieser Richtung haben sich Philimon und Tri-
kupis mit vielem Glück versucht. Namentlich Trikupis hat in
seiner Geschichte des griechischen Aufstandes die Klippen geschickt
vermieden an denen so manche seiner Vorgänger wieSoutzos undRhizo
Neroulos gescheitert sind. Unbeirrt von den heftigen Parteileiden-
schaften der Gegenwart, frei von dem Hang zum Wunderbaren,
der gewöhnlichen Räuberzügen die Bedeutung grossartiger Frei-
heitsschlachten beilegt, und frei von der unerschöpflichen Fabellust
seines Volkes, berichtet er das Geschehene mit besonnenem Maass-
halten und mit einer wahrhaft genialen Nüchternheit. Indem wir
diesem Führer folgen, haben wir das beruhigende Bewusstsein,
dass wir langsam weiter kommen; mitunter denselben Weg zwei-
mal unternehmen müssen, aber niemals den Faden des Ganzen
verlieren oder in einem Gestrüpp von Einzelnheiten uns verirren
werden. Schwerer zu bewältigen ist selten ein historischer Stoff
als der, welcher den Vorwurf des Trikupis’schen Werkes bildet.
Dem Zikzak des Blitzes vergleichbar lief der Aufstand über das
ganze illyrische Dreieck, flackerte bald auf jener Insel, leuchtete
bald auf dieser Bergspitze empor, ward bald gelöscht, bald verband
er sich mit der Gluth des benachbarten Ländchens um zur gewal-
LIX. Jahrg. 6. Heft. 26