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angeblicher Briefwechsel mit dem Apostel Paulus (321). Hygin282, ein latei-
nischer Aristoteles mit Kategorien (323) und ihm angehängt De liberalibus
artibus (337), Sallusts Bellum Catilinae283, Claudianus, De Proserpina (331),
Pompeius Trogus, Historiae (335), Marius Victorinus De rhetorica (334) . . .
Also ein völlig andrer Bestand alter Literatur und vor allem auch wirk-
liche Literatur, während der auf der Reichenau so gehäufte grammatische,
rhetorische und metrische Lehrstoff hier fast fehlt. Ein ganz verschiedener
Bibliothekscharakter, wie er sich aber aus der Bestimmung beider Samm-
lungen eindeutig ergibt: der Donaueschinger Katalog gilt eben der Bücher-
sammlung des Konstanzer Domkapitels, das in seiner Anschauung gelöster
und außerdem nicht an den Unterrichtsbetrieb gebunden war wie der Rei-
chenauer Konvent. Im Domherrnstift, das keiner strengen Ordensregel
unterlag, sondern dem oft sehr frei eingestellten Bischof untergeben war,
verlangte man nach einer andern Art der Lektüre, und so brauchten hier
neben den Hauptwerken der theologischen Literatur auch die weltlichen
Autoren der Antike nicht ganz zu fehlen. Immerhin mag es auffallen, daß
Chorherren Ovid, Iuvenal und Persius lasen, aber nichts von Cicero und
Horaz oder Vergil besaßen.
Unmöglich aber kann die Reichenauer Bibliothek im Lauf weniger Jahre
das Gesicht ihrer Bestände so verändert haben, daß sie plötzlich in den Be-
sitz einer recht ansehnlichen Sammlung antiker Autoren gekommen wäre
und zugleich eine bedeutende Einbuße an grammatischen, liturgischen und
theologischen Werken erlitten hätte. Darum beziehe ich das ohne jegliche
Herkunftsangabe überlieferte Handschriftenverzeichnis im Donaueschinger
Sakramentar nicht auf die Reichenau, sondern sehe in ihm das gewichtige
älteste Zeugnis der hochentwickelten Buchkultur des Konstanzer Domkapi-
tels im neunten Jahrhundert284.
282 Nr. 322: „Ygini vol. I.“ Unter Ruadhelm kam Reichenau zu einem „über astro-
logiae Hygini“ (Kat. III 7); s. „Zeugnisse“ 129 f. und ob. Anm. 174.
283 Nr. 324. Reichenau hatte keinen alten Sallust, erst spätere Papier-Hss (Aug. 98
u. 126); das Lupus-Zitat „Zeugnisse“ 207, 1 ist zu streichen; s. ob. S. 16 mit Anm. 88.
284 In einer Arbeit über Entstehung, Bedeutung und Schicksal der Konstanzer Dom-
bibliothek betrachtet Jakob Eschweiler (Erzabtei Beuron) die „Summa librorum“ im An-
schluß an J. v. Laßberg (s. Reich. Hss 3, 1. 103) auch als Verzeichnis der Hss von Konstanz
(9. Jh.) und glaubt, mit gutem Recht, auf der Grundlage des Inhalts dieses Katalogs der
alten Domherrnbibliothek den Ruhm eines Besitzes zuerkennen zu dürfen, der sich mit den
damaligen Beständen St. Gallens und der Reichenau mindestens messen konnte; s. „Süd-
kurier“ v. 23. 5. 1953 (Nr. 102 S. 8).
angeblicher Briefwechsel mit dem Apostel Paulus (321). Hygin282, ein latei-
nischer Aristoteles mit Kategorien (323) und ihm angehängt De liberalibus
artibus (337), Sallusts Bellum Catilinae283, Claudianus, De Proserpina (331),
Pompeius Trogus, Historiae (335), Marius Victorinus De rhetorica (334) . . .
Also ein völlig andrer Bestand alter Literatur und vor allem auch wirk-
liche Literatur, während der auf der Reichenau so gehäufte grammatische,
rhetorische und metrische Lehrstoff hier fast fehlt. Ein ganz verschiedener
Bibliothekscharakter, wie er sich aber aus der Bestimmung beider Samm-
lungen eindeutig ergibt: der Donaueschinger Katalog gilt eben der Bücher-
sammlung des Konstanzer Domkapitels, das in seiner Anschauung gelöster
und außerdem nicht an den Unterrichtsbetrieb gebunden war wie der Rei-
chenauer Konvent. Im Domherrnstift, das keiner strengen Ordensregel
unterlag, sondern dem oft sehr frei eingestellten Bischof untergeben war,
verlangte man nach einer andern Art der Lektüre, und so brauchten hier
neben den Hauptwerken der theologischen Literatur auch die weltlichen
Autoren der Antike nicht ganz zu fehlen. Immerhin mag es auffallen, daß
Chorherren Ovid, Iuvenal und Persius lasen, aber nichts von Cicero und
Horaz oder Vergil besaßen.
Unmöglich aber kann die Reichenauer Bibliothek im Lauf weniger Jahre
das Gesicht ihrer Bestände so verändert haben, daß sie plötzlich in den Be-
sitz einer recht ansehnlichen Sammlung antiker Autoren gekommen wäre
und zugleich eine bedeutende Einbuße an grammatischen, liturgischen und
theologischen Werken erlitten hätte. Darum beziehe ich das ohne jegliche
Herkunftsangabe überlieferte Handschriftenverzeichnis im Donaueschinger
Sakramentar nicht auf die Reichenau, sondern sehe in ihm das gewichtige
älteste Zeugnis der hochentwickelten Buchkultur des Konstanzer Domkapi-
tels im neunten Jahrhundert284.
282 Nr. 322: „Ygini vol. I.“ Unter Ruadhelm kam Reichenau zu einem „über astro-
logiae Hygini“ (Kat. III 7); s. „Zeugnisse“ 129 f. und ob. Anm. 174.
283 Nr. 324. Reichenau hatte keinen alten Sallust, erst spätere Papier-Hss (Aug. 98
u. 126); das Lupus-Zitat „Zeugnisse“ 207, 1 ist zu streichen; s. ob. S. 16 mit Anm. 88.
284 In einer Arbeit über Entstehung, Bedeutung und Schicksal der Konstanzer Dom-
bibliothek betrachtet Jakob Eschweiler (Erzabtei Beuron) die „Summa librorum“ im An-
schluß an J. v. Laßberg (s. Reich. Hss 3, 1. 103) auch als Verzeichnis der Hss von Konstanz
(9. Jh.) und glaubt, mit gutem Recht, auf der Grundlage des Inhalts dieses Katalogs der
alten Domherrnbibliothek den Ruhm eines Besitzes zuerkennen zu dürfen, der sich mit den
damaligen Beständen St. Gallens und der Reichenau mindestens messen konnte; s. „Süd-
kurier“ v. 23. 5. 1953 (Nr. 102 S. 8).