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Ewald Jammers
Eine Notiz der „Commemoratio brevis" des zehnten Jahrhunderts
über das Tempo beim Choral.
Der Rhythmus des gregorianischen Chorals und insbesondere eine Frage
des Tempos ist eine spezialwissenschaftliche Angelegenheit, und doch sind
diese scheinbar so entlegenen Dinge von grundsätzlicher Bedeutung. Denn
Rhythmus ist nichts Beiläufiges, er steht vielmehr im Mittelpunkt der Mu-
sik, er gehört zu ihrem Wesensmäßigen, Unübertragbarem, und er führt
den Forscher zu dem, was wesensmäßig, unübertragbar dem Lebensgefühle
eines Zeitalters angehört.
Wir haben zwar nur wenige Äußerungen von mittelalterlichen Schrift-
stellern über den Choralrhythmus, — und das heißt für die Zeit vom Aus-
gange der Antike bis zum 11./12. Jahrhundert soviel wie über den Rhyth-
mus der Musik und der mit der Musik verbundenen Texte —. So wären zu
nennen ein Vers Alkuins, zwei Seiten eines Anonymus der Vatikanischen
Bibliothek, wohl aus dem 10. Jahrhundert, die Scholien der Musica enchi-
riadis aus der gleichen Zeit, die vielleicht nicht dem berühmten Hucbald
von St. Amand zuzuschreiben sind und meist als Pseudohucbald zitiert wer-
den, die Commemoratio brevis de tonis et psalmis modulandis1, ebenfalls
aus dem 10. Jahrhundert und wohl auch aus dem gleiche Gebiete wie Pseu-
dohucbald, Guido von Arezzo und einige weniger wichtige Theoretiker.
Aber anderseits vollzieht sich in diesen Jahrhunderten von 800 bis 1000
oder 1100 ein großer Wandel von der antiken, genauer spätantiken Musik
zur mittelalterlichen.
Während man lange Zeit glaubte, daß der Choralrhythmus sich unver-
ändert von der Zeit der Entstehung bis heute erhalten habe, wird heute
nicht bloß sichtbar, daß nach dem 10. Jahrhundert der ursprüngliche Rhyth-
mus unverständlich geworden war und verloren ging, sondern allmählich
dürfte es auch gelingen, den ursprünglichen Rhythmus und seine Umwand-
lungen bei der Begegnung mit der karolingischen Welt zu erkennen. Freilich
darf man dann nicht wie bisher im Streite der Meinungen die Theoretiker
des Rhythmus im Bausch und Bogen deuten und zerdeuten, sondern es ist
jetzt angebracht, Punkt für Punkt ihre Worte vorzunehmen und jeden Satz
1 M. Gerbert, Scriptores ecclesiastici de musica sacra (S. Blasien 1784 ff) I, S. 213 ff,
ferner P. Wagner, Neumenkunde“. 3. Aufl. (Leipzig 1912) S. 359.
 
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