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im Zusammenhänge des gesamten Materials, das wir über die Rhythmik
und die Musik und die ästhetischen Anschauungen der Zeit besitzen, sorg-
sam zu prüfen. Es dürfte dabei auch ein Licht auf diese Umwelt zurück-
strahlen.
„Repetitio antiphonarum, quae in fine versuum intercantandum fit,
eadem qua psalmus celeritate percurrat: porro finito psalmo legitima pro-
ductione producatur duplo dumtaxat longius: excepto dum cantica evan-
gelica sic morose psallunter, ut non longiori, sed eadem morositate antipho-
nam subsequi oporteat“. — Diese Forderung der Commemoratio brevis, die
Antiphonen nach beendigtem Vortrag der Psalmen doppelt so langsam vor-
zutragen, erscheint durchaus ungewöhnlich, ja unwahrscheinlich. Es dürfte
sich, so meint z. B. P. Lucas Kunz in seinen Studien „Aus der Formenwelt
des gregorianischen Chorals“2 — und so möchte man wohl allgemein anneh-
men — um eine überspitzte Formulierung einer Richtung von mittelalter-
lichen Choraltheoretikern handeln, die der lebendigen Choralpraxis Gewalt
antun möchten zugunsten einer abstrakt gleichmäßig geordneten Vortrags-
weise, eine „Übertreibung“, von der sich die mensuralen Theoretiker von
damals „nicht freihielten“. Allerdings gibt es bei den damaligen Theoreti-
kern verwandte Äußerungen. So besagt eine andere Stelle der gleichen
Commemoratio brevis de tonis et psalmis modulandis, daß die Versanfänge
gedehnt werden könnten, natürlich auf das Doppelte, und eine ähnliche
Pseudohucbalds3, daß man der Abwechslung halber Versanfänge oder
Schlüsse schnell oder langsam, d. h. doppelt so schnell oder langsam singen
kann4. Pseudohucbald läßt das dann auch an einem Schulbeispiel auspro-
bieren. Auch das erscheint durchaus fern der Choralpraxis, — gewaltsam,
rational-unlebendig, einem theoretischen Denken entsprossen. Choral oder
Liturgie überhaupt ist aber Gottesdienst und muß Sache des Herzens, Sache
der Unmittelbarkeit sein. Wenn etwas hervorgehoben werden soll oder wenn
ein Gesang sich dem Schlüsse nähert, dann mag ein kleines Ritardando ge-
nügen. Aber das doppelte Zeitmaß: so arbeitet nicht ein Künstler, sondern
nur ein Theoretiker. So ungefähr möchten wir heute sagen, und so denkt
offensichtlich P. Lucas Kunz.
So schnell aber dürfen wir diese Theoretikeräußerung nicht abtun. Zu-
nächst dürfte es sich nicht um eine abstrakte Forderung handeln, sondern
sie scheint aus der Praxis erwachsen zu sein. Denn der unbekannte Autor
hat hier eine umfangreiche Reihe von Vorschriften für den Vortrag nicht
selber ersonnen, sondern, wie er ausdrücklich bemerkt, zusammengestellt —
2 Münster 1949, H. 3, S. 28 f.
3 Gerbert, Scriptores I, 182. — Wagner, a. a. O. S. 358.
4 Ich stimme Kunz, a. a. O. S. 24 ff zu gegen W. Lipphardt (Zwei mittelalterliche Theo-
retikerzitate, in: Caecil. Vereins-Organ 69/1940 S. 227).
 
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