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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0283
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Wissen und Raum - ein subtiles Beziehungsgeflecht 271

2 Situation, räumlicher Kontext, Standort und Region -
Variierende Beziehungen zwischen „Raum" und Wissen

Nicht der Raum, sondern die von der Seele her erfolgende Gliederung
und Zusammenfassung seiner Teile hat gesellschaftliche Bedeutung.8

Man kann sich zu Recht die Frage stellen, ob mentale Gegebenheiten wie Wis-
sen, Weltanschauungen oder Identitäten überhaupt räumlich verortet werden
können oder dürfen. Ist es wissenschaftlich legitim, Wissen auf bestimmte
Standorte oder Areale zu beziehen, wo es doch an Personen gebunden ist, die
räumlich mobil sind? Sollten Fragen des Wissens und Lernens nur akteurs-
bezogen untersucht werden oder sind vielleicht die Wissensbestände, die sich
in der Architektur und den Regeln einer Organisation niederschlagen, eine
genau so wichtige Forschungsfrage? Ist es nicht ein Rückfall in einen längst
überwunden geglaubten Geodeterminismus oder in eine Ontologisierung des
Raums, wenn wir einer Situation oder einem lokalen Kontext eine Wirkkraft
auf Handlungen oder Verhaltensweisen unterstellen? Mit welchen Raumkon-
zepten kann man die Beziehungen zwischen Kontext und Wissensproduktion
analysieren, ohne in einen Determinismus zu verfallen? Sollten wir uns auch
weiterhin an die Maxime der soziologischen Klassiker halten, dass Soziales nur
mit Sozialem erklärt werden sollte 9 und die materielle Umwelt auf unser Den-
ken und Handeln keinen Einfluss hat? Oder wäre es vielleicht an der Zeit, die
Erkenntnisse der Hirnforschung, Neurowissenschaften und Humanökologie10
stärker zu berücksichtigen? Diese Fragen deuten an, dass die Beziehungen zwi-
schen Räumlichkeit (räumlichem Kontext) und Wissen ein schwieriges und
sehr umstrittenes Feld darstellen, das man meiden sollte, wenn man sich nicht
der Kritik aussetzen will.

Was ist die Motivation, sich trotzdem auf dieses wissenschaftstheoretische
Glatteis zu wagen? Räumliche Disparitäten des Wissens sind seit Beginn der
vertikalen Arbeitsteilung, das heißt seit der Entstehung des Städtewesens, em-
pirisch nachweisbar. Die Arbeitsteilung und die engen Wechselbeziehungen
von Wissen und Macht tragen dazu bei, dass bestimmte Arten von Wissen bei-
nahe zwangsläufig zu räumlicher Konzentration und andere zur Dezentrali-
sation neigen.u Räumliche Disparitäten des fachlichen und kulturellen (sym-
bolischen) Wissens stellen seit mehreren Tausend Jahren ein fundamentales
Strukturelement aller Gesellschaften dar. Regionale Disparitäten des Wissens
haben sich zwar immer wieder verändert und neu strukturiert, indem frühere
Zentren des Wissens ihren Wissensvorsprung und ihre Bedeutung verloren

Simmel 1908.

Die auch von Hard (1999) vehement vertretene cartesianische Auffassung, dass Soziales und
Physisches konsequent zu unterscheiden seien, wird von einer zunehmenden Zahl von Auto-
ren angesichts der neuen Ergebnisse der Kognitions- und Hirnforschung in Frage gestellt.
' Vgl. Fischer-Kowalski/Erb 2003.
Meusburger 1998,2000,2004.
 
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