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Heidelberger Zeitung (45) — 1903 (Juli bis Dezember)

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Nr. 229 - 255 (1. Oktober 1903 - 31. Oktober 1903)
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ker, >der Schriftsetzer Levi aus Warschau, von ehrsamen
Bürgern der Stadt, ncisWM^m wohllöbtichen Nachtwäch-
ter Vergin, dem Schnhmacher Gräber, 'dem Tischler
Stutzke und dem SchlvsHrtnerster Hahn, zuTode ge-
chrügelt worden. 'Jn der Herberge, wo der arme
Jude einkehrte, wurde er von den genannten wackeren
Herren und anderen Gästen damit geneckt, daß er nieber-
knien un'd das „Baterunser" sprechen mußte. Da er aber
das Gebet schlecht o'der gar nicht konnte, so wurde er der-
art mißhandelt, daß er in der Nacht verstarb. Auf Ver-
anlassung der StaatsanwWschaft ist die Leiche seziert
wovden. Die Angeklagtchx Aürften eine schwere Strafe
erhalten, da sie sichmicht allein der schweren Körperver-
letzung, sondern auch der gröbsten 'Gotteslästerung schul-
dig gemacht häKn. __

Ausland.

Oesterreich-Ungarn.

Budapcst, 9. Oktober. (Franks. Ztg.) Jm libe-
wurde heute von vertrauenswürdiger
Seite beriMet, daß 'Graf Stefan Tisza schon dem-
nächst zum Mi n i st e r p r ä s i de n t e n de'signiert wer-
den, unter jeder Bedingung die Mifsion annehmen wird
und entschlossen ist, das Haus selbst im Gxlex-Zustande
aufzulösen.s

Frankrcich.

Paris, 9. Qktober. Jn dem heute im EIis6e abge-
haltenen Ministerrat wurde 'beschlossen, dis Kammern
zum 20. Oktober einzuberufen. Minister Delcasse
teilte die Nachrichten üb-er Marokko mit. Die Regierung
beschloß, mit der nacheinander im Senat und in der Depu-
tiertenkammer dargelegten! Politik bczüglich Marokkos zu
beharren, die von der Ergreifung von Polizeimaßnahmen
im südlichen Oran getrennt bleiben soll. Der Ministerrat
beschloß die Schasfung von zwei Kompagnien be -
rittener Jnfanter i e, um die Provinz Oran gegen
den Einfall von Truppen zu schützen, die eine der fran-
Zösischen gleichartige Äusrüstung besitzen und gegerc die
die Saharatruppen ungenügend ausgerüstet sind. Minister- j
präfident Combes ga'b die Grundzüg-e der Rede bekannt,
die er am Sonntag in Clermont-Ferrand zu halten ge-
benke: er w-erde darlegen, daß das Parlament in der näch-
sten Tagnngchuent den Staatshaushaltsetat und dann
- das Gesetz "Mer- die -E infü 'hrung der zweijäh -
,rchg e m Z).ch.tz.rrM e stl zu beschließen-habe. Darauf soll
W' Boch'chkaW ÄeMgkch der Aushebung des 'Gesetzes über
die-Rege'lung des Aufsichtsrechts der Behörden gegenüber
dem öffentlich-en! Schrstwesen und die Maßr-egeln prüfen,
die zur Durchführung der Liguidierung des Unterrichts-
wesens erforderlich sind. Nach Erledigung dieser Fragen
werde sich das Parlament, mit der Reform der direkten
Steuern-, Schaffung von A.rbeiteraltersversorgungskassen
und 'der Trennung der Kir-che vom Staat beschäftigen
müssen.

England.

London, 9. Oktober. Der Neffe und Erbe des Her-
Zogs von Devsnsh'ir-e, Viktor Cavendish, ist zum
Finanzsekretär des Schatzamts, der 'Earl of Percy zum
Unterstaatssekretär des Auswärtigen ernannt worden.

Australicn.

Melbourne, 9. Oktober. Reutermeldung. Die Poli-
tiker aller Schattierungen von Australien zollen
Chamberlains meisterhafter Behandlung der handels-
politischen Frage Aner k s n n u n g. Sie wünschen alle,
die Bande mit dem Mutt-erlande zu b-efestigen und bie
Wech'selbeziehungen im ganzen Reiche zu begünstigen. Tief-
gehende Unterschiede jedoch bestehen hinstchtlich der Mittel
Zur Verwirklichung des Planes. Aeußerungen von leiten-
den Schutzzöllnern weisen darauf hin, daß ste nicht zu
materie11e'n Opfern bereit sind. Es wird beson-
d-ers hervorge-hoben, da wo die Ausdehnung der Manu-
faktur und das Aufleben neuer Jndustrien gefährdet ssi,
verbiete der Selbstschutz eine Herabsetzung der betreffenden
Zölle, wenn diese auch für fremde ausländische Pro'dukte
srh-obsn werden könnten. Dieses Gefühl würde no-ch da-
durch erhöht, daß die australischen Staaten in der Haupt-
sache von den Einnahmen aus den Zöllen abhängig seien.

Wellington, 9. Okt. Das R e p r ä s e n t a n t e n-
haus von Neuseeland hat mit 41 gegen 23 Stim-
men ein Gesetz über d e n Kü ste nh-a n d eI an-ge-
nommen. Es bezweckt, die Schiffe fremder Länder, die
der englischen Schiffahrt eine unterschiedlich-e Behandlung
zuteil wer'dsn lassen, von 'der Beförderung von Frachten
und Fahrg-ästen zwischen den neuseelän'dischen Häfen aus-
zuschließen. Das Gesetz soll auch Anwendung aus den
Han-del zwischen Neuseeland und Australien und anderen
britischen Besttzungen finden, vorausgesetzt, daß diese ein
ähnliches Gesetz einführen. Tsr Führer dsr Opposition
sprach stch ents-chieden gegen die Bestimmung aus, wonach
frem'de Schisfe, die gegen das Ge'setz verstoßen, beschlag-
nahmt und verkauft werden sollen. Das Gesetz bedarf noch
der königlichen Gen-ehmigung. Der -Premierminister deutet
an, die Regierung beabsichtige, ein Gesetz vorzuschlagen,
das 'die Tiefladelinie für ausländische Fahrzeuge für obli-
gatorisch erklärt.

Aus Stadt rmd Land.

jiarlsruüe, 9. April. (Karlsruher P r I v a t a n g e-
stellte) beriefen nach der„Lcmdesztg." auf gestern Abend
in den Saal 3 der Brauerei Schrempp eine Verscrmmlung ein,
die sich eines sehr zahlreichen Besuches erfreute. Zweck der
Versammlung war, die hiesigen Privatangestellten mit der.im
Gange befindlichen Bewegung zu Gunsten einer Pensions- und
Hinterbliebenenversorgung der Prtvatangestelltsni bekannt zu
machen und dtese Bewegung zu sördern. Mit diesem Hinweis
eröffnete Herr Mattern, der Vorsttzenide des Karlsruher
Werkmeistervereins, die Versammlung und^erteilte alsdann das
Wort Herrn Reinheimer, Mitglied des deutsch-nationa-
len Handlungsgehilfenverbandes. Dieser sprach sich in »einem
Referat dahin aus, daß die Privatangestellten vom Staate bis-
her stiefmütterlich behandelt worden sindz .es fe-hle ein Gesetz,
auf Grund dessen für die Privatcmgestellten im Alter und bei
Arbeitslosigkeit Fürsorge getroffen werde, wie es zu Gunsten
der Arbeiter, Lehrer und Geistlichen bereits bestehe. Wenn be-
hauptet werde, datz der Privatangestellte Lesser gestellt sei, so
müsse man dem widersprechen. Gerade für den -Stand der
Privatangestellten sei es eine dringende Notwendigkeit, datz der
Staat ihm hilfreich entgegenkomme, ivenn er nicht wolle, datz
die Privatangestellten nach und nach der Sozialdemokratie in
die Arme getrieben werden. Nach einer Mitteilung des Red-
ners hat man die Zahl der Privatan-gestellten bei der VolkS-
zählung im Jahre 1895 auf 621 000 ermittelt; heüte könne
man die Zahl derselben auf mindestens eine Million äunehnten.
Mit Cinrechnung der Familienmitglieder Aürfte maü ' mii einsr
Ziffer von 4—5 Millionen Persotten rechtten. Cinö .solche
Zahl sei von erheblicher Bed'eutungtt'" Der Redner beip.'-M im
Weiteren die Entwickclung von Techtzik uttd Jndustrie, d-.e heu-
tige Produkti-onsweise, -die Liel'e' arbeilende .Hände überflüssrg
mache und die Nachteile, die aus der Arbeitsunsicherheit resul-
tiercn, Nicht allein der Angestellte habe cin Iniereste käian,
sichergestellt zu sein, sondern auch Ver Ilnternehmcr. Aller-
dings werde man auf der Seite der l-tzteren auf Widerstand
stoßen. Das, was fur dle Bergwerkangejtellt-'n nnd diejcv igen
der Berufsgenossenschaften getan werden konns, sollts auch ivr
die Privatcmgestellten geschehen können. Der Redner ver-
langte Heranziehimg der Angestellten nnd Niiternehmer zu den
Lasten zu gleichen Teilen und den Aufoau dcr Vecsickecung
auf staatlicher -Grundlage. Er schlotz m't Aem Wunsche, datz die
gegenwärtige Bewegung mit der Interestetosigkeit und Gleich-
giltigkeit unter den Privatangestellten ausräumen möge. Die
Versammlung nahm folgende Resolutim an: Die am 8. Lkte-
bcr im Saale der Brauerei Schrempp tagende »sfentlich; Vcr-
sammlimg der Privatcmgestelltcn ist von oer Notwendigkeit dcr
reichsgt-iitzlichen Regelung einer PemionSÄtrffHr''»',-, fiir Pri-
va'angeslevte nnd ihrer Angehörigen überzeugt und cracbtet -s
alZ einc ter wichtigsten Aufgaben des Revh-Z, ciii' sollb' Rc-
g -i,a>g herl cizuführcn.

Kleine ^eituna.

— Darmstadtz 9. Oktöber. Hsute Nachmittag wohnten
die Fürstlichkeiten- einem Reiterfeste bei, das- von den
Offizieren des Leibdragonerregiments, dessen Chef der i
Zar ist, veranstaltet wuvde. Sonntag -wer'd-en d-er Kaiser
und die Kaiserin von Rußland und der Großherzog der
fürstli-ch Erbach-Schönbergschen Familie in König im
Odenwald einen Besuch abstatten. Am nächsten Montag
wird das Zarenpaar mit den kaiserlichen Prinz-essinnen,
Großfürst und Großfürstin Sergius von Rußland, Prinz
und Prinzessin Heinrich -von Preußen und der Großherzog
mit seinsm Töchterchen Prinzessin Elisabeth sür einige
Zeit auf Iagdschloß Wolfsgarten Wohnung nehmen.

— München, 8. Oktober. Der deutsche Kron-
prinz und Prinz Eitel Friedrich bega-ben sich nach dem
Souper im Fürstensalon mit ihren mtütärischen Beglei-

tern in Ziviii'leidung- iii einem Zweispänner nach M
königlichen, Hofb r ä-nh a u s. Die beiden Prinzew ,
sich, laut „Münch. Neuest. Nachr,", in die „Schwern»^^
im Parterre begaben, fügten- sich-per Orts'sitte, bedieu^
sich selbst, schwenkten i-hre Krügenüin Brunnen aur- " ,

holten sich selbst an der Schänke js eine Lstaß Bier. 4.W
setzten sie sich mit rhrer Begleitung an einen Tisch uul
unter die Leute, ohne von diesen erkannt zu werden. ,

— Leipzig, 8. Okt. Ein Familiendrama 'hat sich
srüh 6 llhr im Hause Kratzbachstraß-e 9 des Stadtteils ,
tritzsch abgespiW, Nach vorausgegangenem Streit ertz '
der 35jährige Ljthograph Arth-ur Felix Seifert ,
Revolver gegen jöjMZLjä'hrige Mutter, schoß sie niedestU
ging darauf in -die austoßende Schlafkammer, wo
36 Jahre alte Schwester verwitwete Koep-pe noch
Bette lag. Er erschoß auch d-iese, und als Leute zu
herbeieilten, feuerte er auf 'd-iese ebsnfalls einige Revow
schüsse ab, glücklicherweise ohne zu treffeu. Dann eiw
Seifert die Waffe auch gegen s ich seIb st und brach ^
zusammen. .

— Bcrlin, 9. Oktober. Die Luftschiffer ErzhM^
Leopold Salvator und Graf de la Vaulx wuvdm
durch heftigen Regcn bsi Lü b e ck zu landen gezwung^I
Der Ballon „Centaur" legte deu Weg von Paris un
Lübeck i n 14 S-tz.u nden zurück. -

— Berlin, S. Oktz, , Eine trotz des ernsten Hintergru» '
sehr erh-eiternd wirkcttde Geschichte erzählt die „PankRL,
Ztg." von den „Freuben eines H a u s b e s i tz e r - '
Si-e schrcibt: Ein Hcrr RP der sich in der Verlüngerten
loniestratze ein Haus gebaut hat, hatte das zweifelhafte 2n
gnügen, cine aus Stube-Mnd Mche bestehende Wohnung ^
einen sogenannten „Finfminuten-Arbeiter" unter der
gung der Pränumerando-Miet-ezählung zu vermieten,
ließ der ncue Mieter sich gar nicht erst aus Mietezahlung '
und da alle Mahnungen auf schriftlichcm Wege und durch ^
Hausreiniger kcin Gehör fand-en, fühlte sich der Hauswirt v,
emigen Tagcn selbst veranlaßt, ihtti morgens seinen Best"
abzustatten. „Wat, Miete berapen?" kam es fast m i t^ sr u j
rüstung aus dem Munde des Genannten. „Nich' in die Tüte-
„Ja, dann muß ich Sie exmittieren!", saate Herr R. „Pa^
Sie Jhre Sach-en und ziehen Sie morgeü bis Mittag."

Mieter brach in Lachen aus, öffnete die Küchentür und ri,
seiner besseren Hälfte zu, indem er mit dem Daumen über "
Schulter hittwcg auf deu Hausherrn zeigtc: „Mutter,
sagt, wir solleu ziehen!" „Ziehcn.?", sagte dic Gattin.
hat woll 'nen Nag-el? Wir ziehen nich!" — „Dann werfe
Sie hinaus, und die Sachen blciben hier", entgegnete dc
Wirt.'i „Männcken, detlihassen Se man sind", bemerkte de
'Mieter kaltblütig. Wat, Sie v-oll'n Hauswirt sind und kenncst
nich enmal det Gesetz? Nisch! kennen Sie mich nchmen, recM
jar nischt, wat ick habe, brauchc ick!" Der Hauswirt biß 1s,
auf die Lippen. Ehe er sich zu eitter Aniwort fasscn korinn-
trat der kaltblütige Mieter auf ihn zu und sagte: „Wissssi
Se wat, Hcrr R,, jeben Se mich zehn Meter, denn ziehe s,
heute noch!" Herr R. trat erstaunt eincn Schritt zuruv:
„Zehn- Mark wollen Sie obendrein von mir noch h-aben?" 1^,!
er. „Das wäre ja noch schöner!" „Wenn nich — dcnn nich-^.

entgegnete der.Mieter gleichgültig. „Verklagen Sie mir, uw
che ick nich von't Gericht gezwungen werde, auszuziehen, eh(s'
jehcn -wir nich. -Schmeitzen Sie mir aber eig-cnhändig 'raUst
jehe ick mit m-cin-cr -F.amilie nach det Zentralhotel und logn'l'^
dort auf Jhre Kostep." — Der Hauswirt grifs in die Taschl
und holte die verlgflgte Summe hervor. „Bong, machen ivir.-.^
sagte der Mieter, „ick bin en Mann -von Wort." Hierauf öfls
nete er das Fenster und pfiff seine beiden Jungen. „Willcw-
August! kommt mgkffchnell ruff, wir ziehen!" — Eine StuuV
später fuhr ein bepackter Hundewagen von dem Hause de-
Herrn R. hinweg.

— Lnxnszüge Paris—Berlin—Mvsknu—Pcking.

ter dem Vorsitz d-es rnssischcn Geheimrats v. Perl sand di^'
ser Tage in Wien mit Vertretern der in Betracht kommew
den Eisenbahnverwaltungen eine Besprechung statt, nm voN
Europa über die sibirische Eisenbahn nnd d-ie chinesisä^
Ostbahn möglichst günstige Zugverbindungen nach Sst'
asten herzustellen. An den Besp.rochnngen bet-eiligten ßw
Vertreter der englischen WestbahN, der französischen Nord-
bahn, der belgischen Staatsbahnen, der niederländischVll
Staatsbahnen, der preilßisch-hessischen Staatsbahnen, dei
österreichischen Kaiser Ferdinands-Nordbahn und der öster'
reichischen S-üdbahn, ster beteiligten russischen Bahneio
der chinesisch-en Ostbahn, des Norddeutsch-en Lloyd, der
Jntcrnationalen Schlafwagengesellschast nsw. Nach deN
g-etrossenen Vereinbarungen stcht die Einführung direkter
'den Verkehr zwischen (London—) Paris— und Pekiml
vermittelnder Lnxuszüge am 1. April 1904 Levor.
soll wöchentlich einmal ein Luxuszug auf der Strecke Low

Ein unsühnbares Verbrechen! Sonst wäre es so bequem,
die Qual durch einen einzigen Fingerdruck zu beenden. Wer
er durfte seine arme Frau, die schon zu viel für ihn und die ,
Kinder getragen hatte, in dem Kampfe nicht verlassen. Sie, ^
Söhne und Töchter der Mittellosigkeit preisgeben? Unmög-
lich! Nein, nein, — es mußte, mutzte noch einen anderen
Ausweg geben.

Grübelnd schritt der Oberst auf und ab. Den Kopf vorge-
ueigt, die Hän-de auf dem Rücken krampfhaft gekreuzt, folgte
ein Schritt dcm andcrn, ebenmützig, sporenklirrend.

Und seine Frau sah mit Sorge, wie in seinen sonst so
freundlichen Augen das düstere Feuer herannahender Ver-
zweiflung brannte. Jetzt zogen sich seine grauen, buschigen
Brauen schmkxzvoll zusammen. Er schält sich aus unerklär-
licher Scheu vor dem Freunde Patolv,nie gebeichtet zu haben.
Der hätte ihm geholfen. Aber die Furcht, der alte Freund
könne ihn in winem Atemzug-e mit dem gräflichen Schwleger-
sohn eineu . leichtsinnigen Schuldenmacher schelten, over ihm
-gar mißtrauen, schloß ihm den Mund. Jetzt verletzte schon der
Gedanke an eine solche Möglichkeit sein Gefühl derart, datz ihm
heiß und kält ward.

Wiederhölt trocknete er die hellen Schweitztropfen mit Dcr
Handfläche vön der erblaßten Stirne, ohne das konoulsivische
Zittern seiner Finger zu bemerken. Welche Torheit! -Kein
Mann konnte dem andern mehr Vertrauen schenken, als der
'Freund ihm bewiesen hatte, indem er die freie Verwaltung
des riesigen Vermögens ganz in seine Hand legte. Denn
Mousanges Begutachtung der monatlichen Abrechnungen war
nur Formsache. Der gute Hvnge verdiente sich durch einlge
ünterschriften im Handumdrehen und ohne Verantwortung
zweitausend Mark.

Wollte der Ob-erst sich vielleicht durch Arbeit vorn eigenen
Elend ablenken? Jedenf.alls setzte er sich feufzend an ven
Schreibtisch, öffneke Sessen rechten Schrank und zog Akten-
mappen mit dem Namen der Gräsin Bera-Patow hervor.

Sowie Frau von Rühlen das säh, stähl sie sich letse hinaüs. '

Mochte kommen, was da wolle, sie durfte ebenfalls keine Zeit
unnütz verlieren,

Er aber rechnete und rechnete. Hier strich cr elne Zähl
l aus, änderte dort, schrieb ab, zerritz das Geschriebene, das nlcht
^ stimmen mochte, und -verglich ein Papier mit dem andern. Die
angestrengte Arbeit griff ihn sichtlich an, sonst würde er sich
nicht immerfort dcn Schweiß von der Stirne getrocknet haben.
Dazu bebten seine Nasenflügel und die Lippen unter dem dich-
ten grauen Schnurrbarte. So wie jetzt der Oberst tiefgebeugt
dasatz, machte er den Eindruck eines furchtbar vergrämten
Mannes.

Bevor er irgend eine Summe niederschri-eb, sprach er sie
laut vor sich hin, gerade als sollte nicht nur sein Auge, sonbern
auch das Ohr sich an die großen Werte ge-wöhnen. Bittere
Jronie des Schicksals! Er, dem es für sich und die Seinigen
am Notweudigsten fehlte, über dem die Schuldenlast zusam-
menbrach, mußte hier mit Einnahmcn von Hunderttausen-dcn
rechncn,

Nur einmal ein solches Jahreseinkommen und er wäre
gerettet! War es zu verwundern, daß der sorgenvolle Mann
dcm Schicksale zürnte, die irdischen Güter so ungerecht vertetlt
zu haben? Ueber einige W-enige leerte sich das FWhorn des
Ueberflusses, wogeg-en unzählige andere unter Mangel und
Elend lebenslang verkümmern,

Hier der Reichtum nur für zwei Knaben. Für sie wurde
Kapital auf Kapital, Zinsen auf ZiNsen zusammeugesparr.
Und Geld bedeutet Macht! Deshalb verdachte der Oberst es
dem Grafen eigentlich nicht, über die Macht selbst vc?sügen zu
wollen und alles zu tun, um seine Frau zu bewegen, die
lästigcn Testamentsparagraphen umzustotzen. Bis jetzt -wider-
setzte sie sich zwar noch tapfer genug. Dieser energische Wider-
stand der sonst so Willenlosen gegen ihren Mann erschien ihrem
väterlichen Freunde freilich geradezu ratselhaft. Würde der
Widerstand aber gleich stark bleiben? Bei der Frage almere
der Oberst hoch aus und bitz sich in die Lippen, wo sich ein ent-
schlossener Zug ausprägte.

Nach einiger ZeitZrat Frau voN Rühlen wieder ein »nd

stellte sich neben den Schreibtisch. Sie scch sehr blatz aus une
ihre Augen warcn vom Weincn.gcrötet.

„Was hast Du Zicrmann göschrieben, Alterchen?"

Angstvoll griff sie näch dem bereits geschlossenen Briesd-
der den Entscheid über ihrer aller Zukunft barg. Wie ste siw
fürchtete, ihn fortzusendÄi-1-

Ohne ihrem Blicke zst beg-egn-en, schlotz ihr Mann ermüdet
die Augen. Mochte die Kugcl rollen, wohin sie rollen mutzre!
Statt aller Antwort uickte er nur schwach mit dem Kopsi-
Seine Erschöpfung ängstigte sie; deshalb bat sie ihn, deU
Brief nicht fortzusenden, bevor sie nicht noch einmal mit de>n
ungeratenen Kinde gesprochen habe. Doch er erhob abwehrend
di-e Rechte.

„So wäre keine Rettung? Keine?"

Schluchzen durchbebte ihre Stimme. Jhrer Verzweiflung
gegenüber versuchte er zu sprcchen, ohne jedoch Worte findeu
zu können. Endlich murmelte er heiser: „.Doch — -doch '
einen Ausweg gibt — es noch." Sich abwendend trat er ans
Fenster und starrte achtlos auf die bel-ebte Straße.

Mit einem einzigen Schritt stand seine Frau neben ihnr
und ergriff seine schlaff hinabhängende Hand. Jhre WangeU
zeigten wieder das Rot der Gesundheit.

„Gott sei gepriesen, du hoffst? Hast du eine Aussicht?"

Bei dem -Schrei der Erleichterung flog ein befriedigtes
Lächeln über sein verfallenes Antlitz. Zugleich richtete er siw
aus seiner gebengten Haltung auf und schlang den Arm uM
seine treue Leidensgefährtin.

(Fortsetzung folgt.) >
 
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