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Hirschel, Grete
Le livre des Quatre Dames von Alain Chartier: Studien zur französischen Minnekasuistik des Mittelalters — Heidelberg, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.51682#0036
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Des Dichters Leistung überragt also hier im wesentlichen nicht
den Rahmen der Konvention. Hätte er die Absicht gehabt, den ein-
leitenden Rahmen individueller und zugleich der Wirklichkeit
mehr entsprechend zu gestalten, so hätte es nahe gelegen, dem
Debat der Trauernden von Azincourt (25. Oktober) die Schilderung
einer Herbstlandschaft voranzustellen. Doch da das reale Ge-
schehen, obwohl es für Chartier der Ausgangspunkt seines
Werkes wurde, nur in verhaltener Form und von weit her seinen
Schatten in diese poetische von der Konvention geheiligte Welt
wirft, wählte der Dichter die übliche Frühlingsschilderung.
Wie untrennbar diese von einem debat amoureux geworden
war, wird besonders deutlich in Guillaume de Mach au ts,
“Jugement du roi de Navarre“. Nachdem der Dichter hier im No-
vember 1348 beginnend fast chronikartig die furchtbaren Ereignisse
der Jahre 1348/49 erzählt hat, schickt er seinem eigentlichen The-
ma, dem debat amoureux, noch einmal eine ganz kurze Frühlings-
einleitung voraus, die ihn recht lebendig als eifrigen Hasenjäger
schildert, den der schöne Frühling aus dunklen Häusermauern
hervorgelockt hat24.
Eine ähnliche Anordnung zeigt auch “Le Livre du dit de
Poissy“ von Christine de Pisan25. Der erste Teil des Gedichtes, der
einen Besuch Christines in der Abtei von Poissy schildert, ist
eihgeleitet von einer ausführlichen und sehr naturwahren Schil-
derung der Seinelandschaft in der ganzen Pracht des Frühlings.
Es ist eine lebendige ausgezeichnete Schilderung, zwar kehren die
üblichen landschaftlichen Details auch hier wieder, aber sie sind
um individuelle reale Einzelzüge vermehrt, die Chartier ver-
missen läßt. Aehnlich wie im “Livre des quatre Dames“ sind hier
Natur und Stimmung innig miteinander verflochten, doch ist bei
Christi ne der Stimmungsgehalt zarter, weiblicher26. Aber trotz
dieser ausführlichen Natureinleitung schickt auch Christine
dem zweiten Teil des Gedichtes, dem debat amoureux, noch ein-
mal eine aus wenigen Versen bestehende Naturschilderung un-
mittelbar voraus27.
So schließt sich auch im “Livre des quatre Dames“ unmittelbar
an die Frühlingsschilderung der debat amoureux an, der den
Hauptteil des Gedichtes bildet.

24 Oeuvres, ed. par Ernest Hoepffner, t. I. p. 153 ff.
25 P i s a n, de Christine, Oeuvres Poetiques, ed. par Maurice
Roy, Paris 1891, t. II, p. 159 ff.
20 Auch die Hirten gehören hier zum sorglos fröhlichen Frühlings-
dekorum wie in “Livre des quatre Dames“. Vgl. V. 126—30.
27 V. 897—904.

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