Der Debat
A 1 a i’n Charlier ist eine der charakteristischsten und in-
teressantesten Erscheinungen des ausgehenden Mittelalters. Seine
Wirkungszeit fällt in die ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts
— circa von 1414 bis 30 — in eine Epoche, die reich ist an inneren
und äußeren Wandlungen. Der hundertjährige Krieg, der so lange
Frankreichs friedliche Entwicklung untergrub, ist für jene Zeit
das beherrschende Erlebnis und ein schicksalhaftes Geschehen für
Leben und Kultur, namentlich deshalb, weil er seiner wesentlichen
Bedeutung nach ein sozialer, ja ein Bürgerkrieg war, “longue fer-
mentation d’elements en conflit, d’oü sortira un etat social nou-
veau: la Renaissance“1.
Der hundertjährige Krieg machte dem Feudalsystem ein Ende
und erschütterte damit die mittelalterliche Kultur in ihren Grund-
festen. Feudalismus, Rittertum, Kirche, Universität, Städte, Gilden
sind nicht mehr unmittelbar bedingt. Extravaganz auf der einen,
Schwäche auf der anderen Seite sind Symptome für ihren Verfall2.
Rittertum und Feudalsystem gehen ihrem Ende entgegen und mit
ihnen die überreife höfische Kultur, die jahrhundertelang alle
Lebensformen des Abendlandes beherrscht hatte. Die in ihrem
innersten Wesen gedanklich-abstrakte höfische Dichtung erschöpft
sich in Subtilitäten der Worte und der Gedanken. Das verstandes-
mäßige und lehrhafte Element, das vor allem in den kasuistischen
Formen der Minnelyrik früh zu Tage getreten war, wird vom
14. Jahrhundert ab ausschlaggebend, namentlich als die exklusiv-
aristokratische höfische Dichtung in den breiten Strom der bürger-
lichen einmündet. Im 14. Jahrhundert sind Guillaume de
Machaut, Eustache Deschamps, Jehan Frois-
s a r d die Hauptvertreter dieser als “lyrisme bourgeois“ bezeich-
neten Richtung3. Guillaume de Machaut gilt als derjenige,
der die im 14. und 15. Jahrhundert so beliebte Form des “jugement“
oder “debat amoureux“ mit neuem Leben erfüllt hat.
I.
Für den Formalismus, der das ganze mittelalterliche Leben be-
herrscht, ist die Herausbildung einer an feste äußere Formen ge-
1 Funck-Brentano, Frantz, Le moyen äge, Paris 1923, p. 351.
2 Evans, Joan, Life in mediaeval France, Oxford 1925, p. 192.
3 C h a m a r d, H., Les origines de la poesie franijaise de la Renais-
sance, Paris 1920, p, 74.
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A 1 a i’n Charlier ist eine der charakteristischsten und in-
teressantesten Erscheinungen des ausgehenden Mittelalters. Seine
Wirkungszeit fällt in die ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts
— circa von 1414 bis 30 — in eine Epoche, die reich ist an inneren
und äußeren Wandlungen. Der hundertjährige Krieg, der so lange
Frankreichs friedliche Entwicklung untergrub, ist für jene Zeit
das beherrschende Erlebnis und ein schicksalhaftes Geschehen für
Leben und Kultur, namentlich deshalb, weil er seiner wesentlichen
Bedeutung nach ein sozialer, ja ein Bürgerkrieg war, “longue fer-
mentation d’elements en conflit, d’oü sortira un etat social nou-
veau: la Renaissance“1.
Der hundertjährige Krieg machte dem Feudalsystem ein Ende
und erschütterte damit die mittelalterliche Kultur in ihren Grund-
festen. Feudalismus, Rittertum, Kirche, Universität, Städte, Gilden
sind nicht mehr unmittelbar bedingt. Extravaganz auf der einen,
Schwäche auf der anderen Seite sind Symptome für ihren Verfall2.
Rittertum und Feudalsystem gehen ihrem Ende entgegen und mit
ihnen die überreife höfische Kultur, die jahrhundertelang alle
Lebensformen des Abendlandes beherrscht hatte. Die in ihrem
innersten Wesen gedanklich-abstrakte höfische Dichtung erschöpft
sich in Subtilitäten der Worte und der Gedanken. Das verstandes-
mäßige und lehrhafte Element, das vor allem in den kasuistischen
Formen der Minnelyrik früh zu Tage getreten war, wird vom
14. Jahrhundert ab ausschlaggebend, namentlich als die exklusiv-
aristokratische höfische Dichtung in den breiten Strom der bürger-
lichen einmündet. Im 14. Jahrhundert sind Guillaume de
Machaut, Eustache Deschamps, Jehan Frois-
s a r d die Hauptvertreter dieser als “lyrisme bourgeois“ bezeich-
neten Richtung3. Guillaume de Machaut gilt als derjenige,
der die im 14. und 15. Jahrhundert so beliebte Form des “jugement“
oder “debat amoureux“ mit neuem Leben erfüllt hat.
I.
Für den Formalismus, der das ganze mittelalterliche Leben be-
herrscht, ist die Herausbildung einer an feste äußere Formen ge-
1 Funck-Brentano, Frantz, Le moyen äge, Paris 1923, p. 351.
2 Evans, Joan, Life in mediaeval France, Oxford 1925, p. 192.
3 C h a m a r d, H., Les origines de la poesie franijaise de la Renais-
sance, Paris 1920, p, 74.
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