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Heidelberger neueste Nachrichten: Heidelberger Anzeiger — 1936 (Juli bis Dezember)

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https://doi.org/10.11588/diglit.9513#1668
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Seite 18

Fernsprechsr'S..A. 7351—53.

„Heidelberger Neueste Nachrichten" — „Heidelberger Anzeiger*

Samstag, 21. November 193b

Lkichtnprrrigttn als iamilieiWschichtliche Suellt.

, WoHl jeder Familienforscher gelangt bei der Aus-
stellung seiner Stamm- oder Ahnentafel
über lurz oder lang einmal an je-nen gefürchteten
„toten Pünkt", an dem alle Auskunftsmittel zu
versagon scheinen und er versucht isl, entmutigt die
Feder aus der Hand zu legen. Fast regelmätzig pflegt
dieser Fall einzutreten, wenn er, die verhältnismätzig
gestcherte Ueberlieferung des 19. und 18. Jahrhunderts
hinter sich lassend, vordringt ins 17., jenes kriegser-
süllte Jahrhundert, das mit so manchen anderen auch
die zuverlässigste Quelle aller samiliengeschichtlichen
Forschung, die Kirchenbücher, vielerorts hat zugrunde
gehen sehon.

Wie erschwerend nun auch gerade dieser Verlust
sich für den Familienforscher oft sein mag, die Hoff-
nung, auch ohne dieses bewährte Hilfsmittel weiterzu-
tommen, braucht er deshalb noch nicht aufzugeben.
Und da sei er besonders für das 17. Jahrhundert auf
eine Quelle hingewiesen, die, erst heute in ihrer Be-
deutung für die Familienforschung voll gewürdigt,
ihm in viele-n Fällen als Ersatz dienen kann, eine
Quelle, die dem Kirchenbuch an Glaubwürdigkeit
kaum nachsteht, es an Reichhaltigkeit der Angaben und
intimem Reiz aber zumeist übertrisft. Wir meinen
die Gelegenheitsliteratur

der Leichenschriften dcs 16. bis 18. Jahr-
hunderts,

kurz als „Leichenpredigten" bezeichnet.

Der Brauch, Leichenpredigten durch den Druck zu
verbreiten, kam seit der Mitte des 16. Jahrhunderts
zunächst in de-n höheren Ständen in Aufnahme, fand
aber dann rasch bis ins mittlere Bürgertum hinein
Nachahmung. Jm 17. Jahrhundert, der eigentlichen
Blütezeit der Leichenpredigten, gewinnen diese ihre
feststehende Form in Gestalt einer meist füns-
teiligen Sammlung mit erstens der Widmung des
Geistlichen an die Hinterbliebenen, zweitens dem
eigentlichen Text der Predigt, drittens den Personalien
des Verstorbenen, viertens der vom Geistlichen oder
einem nahestehenden Laien gehaltenen Abdankung
(Würdigung der Verdienste des Toten) und fünftens
den sog. Epicedien, d. h. den Trauer- und Trostge-
dichton von Verwandten und Freunden. Mitunter
findet man Bildniffe, Wappen und sogar Noten bei-
gegeben. Jn dieser Art blieb die gedruckte Leichenpre-
digt immer ein protestantischer Brauch, weil
die katholische Kirche an dem oft allzu weltlichen Ge-
pränge dieser Schriften Anstoß nahm, was nicht aus-
schließt, daß gelegentlich auch katholische Drucke
vorkommen, z. B. in Polen und in deutschen Mischge-
bieten wie Augsburg.

Erst gegen Mitte des 18. Jahrhunderts geht man
von der Sitte der Leichenpredigten mehr und mehr
ab, wohl hauptsächlich unter dem Einflutz der Auf-
klärung, die die liebevolle Beschäftigu-ng mit den
Vorfahren als Zeichen rückständiger Gesinnung lächer-
lich machte und die traditionslose Einzelpersönlichkeit
zum Jdeal der Zeit erhob, — eine Einstellung, der
man erst in unseren Tagen mit Erfolg entgegenzuarbei-
ten beginnt.

Jn familiengeschichtlicher Bedeutung

scheiden von vornherein bestimmte Teile der Leichen-
predigt als unergiebia aus. Hierher gehört fast im-
mer der rein erbauliche Teil, also die eigentliche Pre-
digt mit ihren Vor- und Nachsprüchen, ferner alles
Formelhafte in den Lebensläusen selbst, der ganze er-
bauliche Apparat, d-er überall oft wörtlich sich wieder-
holt und dem die individuellsn, für uns allein wichti-
gen Angaben erst hineingefügt stnd. Wenig ertrag-

Von Dr. O. Dammann (Heidelberg).

reich sind im Allgeminen auch die Epicedien, die ange-
hängten, oft sehr zahlreichen lateinischen und deutschen
Gedichte. Dem Erforscher der Barockdichtung mögen
si« hier und da von Jnteresse sein; dem Fanüliensor-
scher können höchstens die Namen der Dtchter, wenn
ihnen Verwandtschastsgrad, Stand und Herkunst zuge-
setzt sind, einigen Einblick in di-e Umwelt des Verstor-
benen gewähre-n.

Ungleich bedeutsamer für den Genealogen sind die
übrigen Teile der Leichenpredigt. Da ist zunächst das
Titelblatt selbst, das den vollen Namen und die
Amtstitel des Verstorbenen nennt, bei Frauen den
Gatten, nicht immer den Todestag, wohl aber Tag
und Ort der Beisetzumg, Namen und Titel des Ver-
faffers, Druckort, Drucker und meistens auch das
Druckjahr. Daran schließt stch dann gewöhnlich aus
der zweiten Seite die „Dedikation", mit der der Ver-
fasser seine Schrift den nächsten Hinterbliebenen unter

Angabe aller Namen, Titel und Berwandtschaftsgrade
zueig-net, sodatz sich dem Forscher nicht selten hier
schon der Einblick in einen ganzen Familienkreis er-
öffnet. Das Haupt- und Kernstiick jeder Leichenpredigt
aber und für ihren Quellenwert entscheidcnd ist der
beigesügte Lebenslauf, — die „Persona-
lien" des Toten. Bietet er uns doch in bequemer
Weise das zusammengetragene und verarbeitete Ma-
terial nicht nur über einen einzelnen, sondern oft über
eine ganze Familie in Form

einer regelrechten Ahnenliste durch mehrere
Jahrhuudertc

rückwärts. Selbstverständlich wird der Ahnonforscher,
der den Glücksfund einer solchen Leichenpredigt macht,
wie jeder gewissenhaft« Historiker namentlich an die
weiter zurückgreifenden genealogischen Nachrichten mit
einer gewissen Vorstcht herantreten. Uebertriebenes

PaL«9>:apk als

50

Die Aufwcrtungshypothek
der Frau Lankertz.

Kirschen zum Einmachen- wollte
Frau Kunold auf dem Markt einkau-
fen; und während sie mit ihrer Liefe-
rantin noch um den Preis verhandelte,
trat Frau Lankertz hinzu. Beide Haus-
frauen kannten sich schon seit Jähren,
waren hin und wieder zusammen in
oen Stadtwald hinausspaziert und un-
telhielten sich gern ein paar Minütchen,
lobald sie sich bei Besorgungen zusäl-
lig trafen. Dieies Mal zeigte sich Frar
Lankertz nicht in ver aufgeweckten Art,
. . wie sie ihr sonst eigen war, sondern

machte einen reichtich bedrückten Eindruck. D-e besorgte
Frage ihrer p-reundin brachte dann auch bald den Grund
zutage: Frau Lankertz war eine Aufwertnngs-
hhpothek gekündigt worden: und sie machte sich
nun trube Gedan-ken, wie sie das Gel-d zur Rückzahlung
beichassen wllte. Offenbar hatte sie von den Schwierig-
keiten gehort, die Drasel von Münchberg bereitet worden
waren, und fürchtete allerlei Ungelegenheiten, da sie es
mit emem Glaubiger ähnlicher Sorte zu tun hatte. „Das
ware wohl noch nicht das Schlimmste," führ Frau Lan-
kertz fort, „wo komme ich aber hin, wenn mir eme andere
Aufwertungshhpothek gekündigt wird, die wegen der Höhe
des Äcti-oacs ni-I kSNtl"

""".!8>,>»<- ooa, oon Verrn Lwaiei emrges

erzahlen: er befmdet sich just in der Lage, vor der Sie
bangen!

Nur in Ausnahmefällen kündigen.

, . Noch am ffelben Nachmittag läuiete Frau Lankertz
bei Draiel. Dieser klärte sie dann ü'ber die Richtlinien
auf, die kürzlich für die Behandlung von Aufwertungs-
hypotheien durch Versicherungsunternehmungen erlassen
worden sind. Es gelang ihm rasch, seine Besucherin zu
beruhigen, weil nach den Richtlinien die Kündigung nur
dort ausgesprochen werden soll, „wo d-as Grundstück oder
die Person des Schuldners auch bei wohlwollender Be-
urteilung nicht me'hr das Mindestmatz an Sichevheit bie-
tet, das nach den Grundsätzen einer verantwortungs-
bewutzten Vermögensvsrwaltung unbedingt verlangt
werden mutz. Ebenso soll die Rückfovderung nur insoweit

verlangt werden, als die gleichen Voraussetzungen vor-
liegen."

Gleichzeitig Berlängerung z« annehmbare«

Bedingungen anbieten.

Schon nach dieser Formulierung durfte Frau Lan-
kertz annehmen, daß ihr die Aufwertungshhpothek von
der Versicherungsgesellschaft nicht gekündigt werden
würde, zumal die angeführten Gründe für sie sicher nicht
zutrafen. Aber selbst wenn es geschehen sollte, dürfte
s,e hmsichtlich der Verlängerung auf Entgegenkom-
m en rechnen: Erscheint irgendwo die Weiterbelassung
der Hppothek nur unter veränderten Bedingungen ver-
tretbar, so ist der Versicherungsunternehmung nähcgelegt,
zugleich mit der Kündigung bekannt zu geben, unter wel-
chen Bedmgungen eine Verlängerung der Hhpothek an-
geboten werden kann. Dagegen raten die Richtlinien da-
von ab, zunächst die Fortsetzuna der Hhpothek unter der-
anderten Bedingungen vorzuschlagen und erst dann, wenn
uher die>e Bedmgungen keine Emigung erzielt wird. die
Kundigung auszusprechen. „Falls eine Auswertungs-
hhpothek nur unter der Bedingung weiter belaffen werven
kann. do' ^ " '' .

ist die Zahlung in kleinen Raten einzuräumen. Es ist
nicht zu billigen, wenn vor Eintritt in Verhandlungen
üüer eine Verlängerung die Bedingung gestellt wird, zu-
nächst einmal einen Spitzenbetrag des Kapitals zurückzu-
zahlen."

^ Diese Richtlinien bedeuten also einen wertvollen
Schutz ür den Schnldner, der ja auch noch insofern vor
allzu starker Belastunq bewahrt werden soll, als zu seinen
Gunsten weiter Ein-schräntungen hinsichtlich der Fest-
schreibungsgebühr, der Taxkosten und des Uebergangs zur
Zinsvorauszahlung wirken. Diese haben wir nur deshalb
Vovweggenommen und am Beispiel des Drasel erläutert,
weil sie nicht nur für Aufwertungshhpotheken, sondern
entsprechend auch für alle übrigen Hypotheken Geltung
besitzen. Jedenfalls ist „überall da, wo die Belassung der
Hypothek angängig i>t, dom Schuldner am besten die
Neuordnung des Schuldverhältnisses
durch neue Festschreibung aus eine längere Frist anzu-
bieten."

Frau Lankertz fiel ein Stein vom Herzen, als sie die
Crklärungen Drasets vernahm. Mit dem Thp Münch-
berg ins reine zu kommen, traute sie sich zn: das war die
' ' ^ "" 'i c ' ' "

Mißtrauen, wie man es mancherseits ber Gla b ^
digkeit dieser Angaben ontgegensetzen zu niu»en ü
scheint aber deshalb doch nicht am Platz. '^-fichen
hat man geltend gemacht, daß gerade die ausmi
Lebensläufe nicht das Ergebnis einer schn^ui
Arkeit aus der Hand des Geistlichen sein konnen, i ^
oern sich ausbauen müffen aus sorgsam uorver« ^
einer gepflegton Familientradition e n m -L,.
menden Unterlagen. Datz in lener E
miliengenalogie eifrig betrieben wurde, bewe>l
druckte Tabellenwerke auch bürgerlicher Famuien, . ^
weit über die Anforderungen der Leichenpredigten »
ausgehen. , pas

Der heutige Benutzer wird also, so>ern er »u ,
oft allzu überladene Pathos der Totenverherruw^^
auf ein nüchternes Matz zurückzuführen verstehl, ^
sachlichen Gehalt seiner Quelle im Nllgeme ' z
Vertrauen schenken dürsen. Darüber y»^il
aber erfährt er hier so manches, was ondere
ihm nicht so leicht zu geben vermögon: gerade dap
vateste, sonst längst Vergeffene, die kleinen, ost w
renden Einzelheiten eines schlichten bürgerlichen
seins, die Jugend und Ausbildung, di« Liebesi ^
der Derlaus der letzten Krankheit: alles das leiv

lebt hier in frischesten Augenzeugenberichten unv
cmigt sich zu einem reizvollen kulturgeschichu
Dokument.

Wo findel man solche Schriften?

Die Zahl der erhaltenen Leichenpredigten ist ^ ,
licherwerse sehr grotz. Sie sind meist in beson
ren Sammlungen zusammengefatzt, "Nd I
Sammlungen befinden sich in jeder älteren Blvu ^
Jede Sammlung enthält zwar in erster Linie di
näheren Umkreis entstandenen Drucke, ist aber -c .

wegs räumlich begrenzt. Ueber die reichsten ^.'"Ki-
verfügen, um nur die wichtigsten zu nennen,
bliotheken in Göttingen, Bremen, Hamburg, E.^1
ver, Stuttgart, Zwickau und die fürstliche Mbu ^
in Stolberg, die mit ihrer berühmten Sammlurrg ^
20 (M Predigten alle anderen übertrifft. ^

Verzeichnisse, die uns die Kenntnis d-ieser Be>w ^
vermitteln, liegen zumteil schon vor, zumteil h«

in Vorbereitung. Da autzerdem der Verein «

(Dresden A. I. Taschenberg 3) einen schri f t >'
Zentralnachwers unterhält, ffnd dem Fvm ^
sorscher Möglichkeiten genug an die Hand gegeben,
ihm die Suche nach gedruckten Leichenpred-igten Z
leichtern.

AIler>et aus aller Welt.

Auf dcn Westindischen Inseln sind zurzeit S H ^ ^
sucher unterwegs, die sich epileptischcr Eiugsw,
bedienen, die angeblich durch die Gabe des zweuen
sichts imstande ssin sollen. jene Plätze zu verraien'
denen einst von Indianern Goldschätze vergraben wu

fen übersührt w-v'

geringere Sorge.

(Kortsetzung solgt.)

Zn Kairo konnten zwei Asfen üversuv"
den, die im Auftrag iner Bands von Taschendieben i" ^
matisch dic Aufmerksamkeit des Publikums so avst^ ^
zu haben, datz die „Mitarbeiter" der Asfen in aller ^
den Zuschauern die Taschen leersn konnten. atzb-

Di« beiden Leipziger O l y m p i a - S i e g «r ^
und Karsch sind in Anerkennnng ihrer Leistung-
den Ölympischen Spielen 19Z6 in städtische Dicnlie
gestellt und in Stcllen beschästigt worden, die rhrcr
rufsausbildung entsprechen._

DeutM Zugenr,

melbet EuK zum ReichsberufswetttA'
1937 bet Eurem Betrtebs- ober sr»^
ZugenbVulter ber DAF.r

^lammsnrsivtisn üdsp Spsnisn

,9 OriginLl-s?omktn von

Er hat eine Strecke der beiten, gut gehaltenen Land
stratze in tiefen Gedanken zurückgelegt.' als ein lautes
Hupen hinter ihm ihn warnt. Cr blrckt sich um und sieht
einen grohen Personanautobus heraneilen, wie ihn jeht
zahlreiche grötzcre Städte in die entfernteren Vorstädte
laufen laffen.

„Saiqun—Valencia" liest Ludwig oben auf dem brei-
ten Querschild mit seinen schärfen Äugen. Welch ange-
nehmer Zusall! Cr bleibt kurz entschloffen mitten auf der
Landstraße stehen und beginnt mit mächtigcn Bewegungen
dsm Fayrer zu winken. And richtig stöppt der Fahrer
und er steigt ein.

Der Wagen ist dicht beseht. Sofort aber erheben
sich zwei der Männer. um Ludwig mit selbstverständlicher,
höslichsr Freundlichkeit ihren Plah anzubieten. Cr.
dankt, nimmt einen dsr Plähe an und zieht nach einer
Weile scin wohlgefülltes Zigarettsnetui. um es den bei-
dsn Gefälligen anzubieten. Große Freude, lebhafter
Dank. Als er auch einigen anderen Umsihenden von seincn
Zigaretten anbietet, ist das Cntzücken über ihn allgemein.
Der Dank überwertet die Winzigkeit des Gebotsnen. So
ist man schon nach wenigsn Augsnblicken wie ein zwang-
los zusammentreffender Freundeskreis.

Cr bejaht, als man ihn fragt. ob er ein Fremder sei,
der Valsncia bssuche. Cr dagegcn bcginnt, ihnen in
politischer Hinsicht ein wenig aiif den Zahn zu fühlen,
dsnn er weitz: Giron will gerne über die Stimmung im
ganzen Lande unauffällig unterrichtet sein.

Sofort berichtet man mit Cntsetzen, mit Abscheu. mit
Erschütterung von dsm furchtbaren Cisenbahnattentat bei
Valencia, bei dem der halbe Cxpreß Barcelona—Sevilla
in die Luft ging. Ia. mit immer wieder neuer Cnt-
rüstung betönte man, daß Sowjetagenten dieses Werk
vollbracht haben.

„Dann seid ihr alle nicht für die jetzige Regierung?
Oder gar für die Forderungen der Kommunisten?" fragt
Ludwig.

O bewahrel Man hat hier kein«n Grund zur Klage.
Hier auf dem Lande lebt man behaglich. Cntweder ist
man monatelang gut bezahlter Arbeiter, Pslücker oder
Verschiffer sür die Orangenplantagen. oder man besiht
selbst ein größsres oder kleineres Stück Pslanzung, deffen
Ertraq man selbst an Grotzabnehmer verkauft. Das
Städtchen Saigun, das nun vor ihnen austaucht, und
näher kommt, ist fast von lauter solchen Leuten bewohnt.
Es zählt fünfzehntausend Linwohner und zeigt ganz den
-r.ypus siner einfachen. aber nicht armen Ortschast.

Auf dem Marktplatz hält der Autobus. Man trennt
sich untcr Händeschütteln. unzähligen guten .Wünschen
und einige dcr Mitfahrenden laffen es sich nicht nehmen,
Ludwig die wenigen Schritte bis zu ihrem „Cine" zu ge-
leiten, deffen grötze, grellbunte Plakate an einem weiß-
getünchten Haüs hängen. Die Vegleitsr werfen den Um-

I0L Oi'Ups-I-.vi'oiis»'. dlaokckruek vsrbotsn

stehsnden eimge stolze Worte zu, die ungefähr lauten:
„Vitte sehr, hier ist ein Fremder! Der sich nicht nur
Saigun anschen will, sondern sogar unser Cine bssucht!"

Von drinnen ertönt Musik! Die Vorstellung ist
bereits im Gana. Ludwig löst sich einen der besten Plätze.
Durch einen schmalen Gang betritt man einen ziemlich
grotzen Saal, primitiv ausgestattet, wie immer in derar-
tigen kleinen Cines. Das Publikum kennt es nicht anders,
weil es nie reist und keine Vergleiche ziehen kann.

Selige Stunde.

Der Raum ist fast so dunkel. Cs ist Ludwig, als
ginge er nun langsam in eine andere Welt. Alles sinkt
ab, was er eben erlebte.

Ieht vereinigt sich all sein Denkcn, sein Wünschen,
sein Hoffen auf die Frage: Wird er Lilly hier finden?
Und — wie wird sie ihn begrüßen?

Cr läßt sich auf den ersten besten leeren Cckplah nieder.
Für Augenblicke nimmt ihn das Spiel gefangen. Cs läust
in der Tat ein deutscher Film. Deutsche Darsteller glei-
ten über die Leinwand, man hört die deutsche Spräche,
denn der Film ist nicht synchronisiert.

Aber Ludwig blickt doch gleich wiedsr suchend rings-
um. Sein scharfes Auge entdeckt nun eine junge D-ame,
die eine Reihe weiter vor ihm wenige Plähe nach rechts
siht. Man steht die ilmrifse ihres tzutes — sie mutz es
setn —, denn — welche junge spanische Dame sollte dieses
Cine besuchen?

Zum Glück läuft eben das Cnde dss Films ab.
Trohdem erhebt sich keiner der Zuschauer, denn nun gibt
es noch einen kurzen Lustspielfilm. Aber der Saal er-
hcllt sich etwas, und Ludwig erhebt sich sofort, um cinige
Plätze in der Reihe seitwärts zu gehen.

Ietzt steht er unmittelbar hinter ihr. Sekundenlang
zögert er noch. Cr fühlt es, in den nächsten Minuten ent-
scheidet es sich, ob es in seinem neuen Lebensabschnitt noch
ein persönliches Leben geben wird oder nicht.

Cr neigt sich vor und fragt: „Fräulein von Kleist?"

Sie erschrickt, nicht nur weil jemand sie hier zu ken-
nen scheint, — sondern sie überhaupt anredet.

Lilly wendet sich um und erhebt sich. Sie stehen sich
gegenüber, Auge in Auge. —

„Crkennen Sie mich?" fragt er nur, und sieht mit
Cntzücken und Hoffnung eine unbeschreiblich starke Cr-
schütterung und ein Crstaunen in ihren Augen auf-
steigen. —

„Ludwia?" antwortete ste. „Ludwig? Aber das ist
nicht möglich!"

„Doch!" sagk er schlicht und streckt ihr seine Rechte
hin. Da sinkt sie in ihrem Sih nieder. Die Knie ver-
sagen den Disnst. Sie hat ein Gefühl, als sei dieses un-
vermutete Crlebnis so gewaltig, datz sie die Krast nicht
zum Crleben findet. —

Saat ibm ihre Crschütterung nicht mehr als viele

leise. „Ich bin vor kurzeni aus Marokko zurückgekehrt.
Ein Aufall führte mich vor einer Stunde in das Häus des
Grafen Cadorna. Als ich ersuhr, datz du hisr weiltest,
habe ich mich sofort aufgemacht, um dich hier zu suchen."

Sie schüttelte leise den Kopf wie vor etwas ilnbe-
greifbarem.

„Darf ich das Du unserer Freundschaft von damals
beibehaltsn, Cilly? Denn aus dem Vackfisch ist eine
junge Dame gcworden?"

Da reicht sie ihm die tzand hin und antwortet nicht,
sondern lächelt nur, indem sie sich so scht, datz sie ihn an-
sehen kann.

In dieser einzigen stummen Vewegung licgt so viel
Vcrtrausn, freudige Zustimmung und Liebe, däß er ein
Glücksempsinden hat wie seit Iahren nicht.

Aber ehc sie weitcrsprechen können, erlischt schon wie-
der das Licht, die Zuschauer ringsum — es sind in der
Hauptsache um diese Nachmittaasstunde Frauen und
Mädchen — verstunmien, rücken aüf ihren Sihen zurccht
und starren wiedcr mit erwartungsvollcn Vlicken auf den
Vorhang. Ludwig aber benuht diesen Augenblick, um
seinen Platz zu vsrlaffsn und den leeren Plah neben
Lilly einzunehmsn.

„Ist ss dir recht, wenn wir aufbrechen?"

„Ia," gibt sie ebenso leise zurück, „nur diese Wochen-
schau müffen wir noch ansehen, denn dieses primitive Pu-
blikum protestiert gegen jede Störung."

Die Wochenschau rollt ab. Cr erfatzt keines der
Vildcr in seinem Sinn. Cr denkt nur, ob dieses alles nicht
ein Traum ist! Liegt er nicht noch droben in einer der
Wüstennächte unter dem sternenbesäten Nachthimmel
Nordafrikas. von fernc kommt ab und zu der heisere
Schrei der Hyänen, und vhantasierte nun im Fieber? Ist
das alles hier Wirklichkeit? Cr sitzt nebcn Cilly von
Kleist — und ihre Rechtc ruht in der scinsn?

heimweh nach Deutschland.

- Plöhlich fährt Ludwig aus seiner Versonnenheit auf.
Cin preutzischer Marsch crklingt. Der Hohensriedberger!
Und schon marschiert ein Vataillon dentfcher Reichswehr
bei irgendeiner grotzen Veranstaltung in Deutschland
über die Leinwand.

Cilly blickt ihn unwillkürlich an und sieht seine
schmerzlich verzsrrten Gesichtszüge. Was geht in ihm vor?

Deutsche Soldatcn sieht er wieder marschisren! Oh,
sie sühlt es, ein plöhliches Heimweh bricht übermächtig
stark in ihm auf.

klnd weil ste fiihlt, datz sie diese jäh aufwachende
Stimmuna in ihm anpacken mutz, drückt sic seine Hand
sester und fa§t — nur ihm vcrständlich —:

„Wio konntest du Deutschland vcrlaffen? Ia — wie
konntest du an Deutschland verzweiseln?"

Sowie die Wochenschau zu Cnde ist und eine kurze
Zwischenpause vor dem Lustspielfilm eintritt, erheben stch
beide. Schweigend gehen sis aus dem Hause und die

Straße hinunter. Zu gleichgültiger ilnterhaltuna ^
ihnen beiden das Herz zu bewegt. Llnd Schwerwreg
mögen sie nicht berühren, wo sich die heiterste slldlän >
Sorglosigkeit rings auf den schmalen alten
tummelt. ^

Aber bald habeii sie das Städtchen verlaffen,
breite Landstratze liegt sast völlig vereinsamt vor >l
Cr zicht sachte ihren Arm durch den seinen, und '"'hiri.
ten sie im wundervollen Gleichklang ncbensinanver
„Wie ich Deutschland vsrlaffen konnte? Ach-
du knüpsst dort an, wo vor Iahren die FLden n
Lebens auseinanderrissen!"

„Ia. Weil der Schlutzsatz deines Drieses damals
unauslöschlich mir einprägtc." , ,

„Was damals — wenige Tage nach der Crsch^ll.^^
Schlageters — in mir vorgmg, kann keiner ganz crm n
der nicht selbst im Weltkrisg und im Baltikum, M
schlesicn und während dcr Ruhrbssehung mitaekampi
— Daß ich Deutschland unter diesem Cindruck "^^fjseii,
war eine Tat dcr Verzweislung. Ich ging nach ^p"
weil tch mich diesem Lande durch meine spanischc
mutter irgendwi« vsrbunden fühlts.

„5lnd was willst du nun tun?" /-tiw'

„Oh, ich kann dir nicht beschreiben, in wslcher S, »
mung ich bin. Ich fühle mich, als hinge ich in
Marokko ist erledigt. Der König aing außer ^ ^
Unfähige, Schwache, die es nicht wägeii, dem Terr-
den Arm zu sallen. . ^ .. pgß

Cilly unterbricht ihn: „Ich habe den Smdrim- ^
Graf Tadorna, unser Gastgeber, im geheimen rre
Ordnungspartei steht." , D»

„Gewitz. Sonst wäre mein Freund nicht hrss' ^he
fragst mich, was ich tun will? Ich sage dir: 'w
plöhlich übermächtiges Heimweh nach Deutschlano.
sühle allzu deutlichö wenn ich mich in diesen vcrai ^
spanischen Verhältniffen umsehs — datz Epanwn
meine Heimat werden kann. Daß ich hier letzten
doch in der Fremde bin!" „ so

„Es geht dir wie mir. Obwohl das Grafenpa
bezaubcrnd gütig gegen mich ist, obwohl das
intereffant ist und ich eine Fülls neuer schöner ^
gewinnc —, ja, trohdcm — — —! Wir Deutiwe ^ ^„s
den unser Hetmweh nie ganz los. Vielleicht ichlan
einige Zeit ein — viclleicht —" .

Ludwig denkt plöhlich an die Worte, di« ^"^rsten'
einiger Zeit zu ihm gesprochen hat, als er ihm per

mal das gewaltige Massiv des Montserrat im w , - ^
untergehenden Sonne zeigts: „So unsrschütter M
dieser Felsen mutz die Liebe zum Vaterlande w

stehen --" ick, über

Er streicht mit seinür sreien Linken unwillku
ihre Kand, die auf seinem Arm ruht: „Das t">. " .^,^1 z>u
kleine Cilly, ja, es tut mir wohl, dich auch so )p
hören. Denn letzten Cndes habe ich wieder
die Heimat zurückzukehrcn. Wenn alles im -
auch noch sehr verworren ist." . wlat-1

(Fortsehung


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