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Schopenhauer, Johanna; Houben, Heinrich Hubert [Editor]
Damals in Weimar: Erinnerungen und Briefe von und an Johanna Schopenhauer — Berlin: Rembrandt-Verl., 1929

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.49927#0342
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Der tragische Roman
Erziehung heißt die Jugend an die Bedingungen ge-
wöhnen, zu den Bedingungen bilden, unter denen man in
der Welt überhaupt, sodann aber in besonderen Kreisen
existieren kann. Der Roman hingegen stellt das Unbe-
dingte als das Interessanteste vor; gerade das grenzen-
lose Streben, was uns aus der menschlichen Gesellschaft,
was uns aus der Welt treibt, unbedingte Leidenschaft; für
die dann, bei uniibersteiglichen Hindernissen, nur Be-
friedigung im Verzweifeln bleibt, Ruhe nur im Tod.
Dieser eigentümliche Charakter des tragischen Romans
ist der Verfasserin auf schlichtem Wege sehr wohl ge-
lungen; sie hat mit einfachen Mitteln große Rührung
hervorzubringen gewußt; wie sie denn auch, im Gang der
Ereignisse, das Natürlich-Rührende aufzufassen weiß, das
uns nicht schmerzlich und jammervoll, sondern durch
überraschende Wahrheit der Zustände höchst anmutig er-
greift.
Durchaus wohltätig ist die Freiheit des Gemütes, kraft
welcher allein die wahre Rührung möglich wird. Daher
denn auch die Fazilität der allgemeinen Anordung, des
innern Ausdrucks, des äußern Stils. Ein heiteres Be-
hagen teilt sich dem Leser mit.
Einsichtige Anthropologie, sittlich-physiologe Ansich-
ten, sogar durch Familien und Generationen durchge-
führt. Abstufung der Verhältnisse und Ableitung. Ver-
wandtschaft, Gewohnheit, Neigung, Dankbarkeit, Freund-
schaft bis zur leidenschaftlichen Anhänglichkeit.
Keine Spur von Parteisinn, bösem Willen, Neckerei,
vielmehr anmutiges Gefühl eines allgemeinen Wohlwol-
lens; kein böses Prinzip, kein verhaßter Charakter; das
Lobens- und Tadelnswerte mehr in seiner Erscheinung,
in seinen Folgen als durch Billigung oder Mißbilligung
dargestellt.
Vom alten schroffen, durch Eigensinn und Wahn zu-
letzt der Verrücktheit nahen Vater bis zur jüngsten, in
die Welt tretenden, heitern Schönheit (wir meinen Ida),
die zuletzt als frische Versucherin auftritt, ohne Wieder-
holung das Ähnliche.
Jener würdige Halbtolle, im Unnatürlichen ganz wahr
gehalten, wird gefordert, um die tragische Katastrophe
hervorzubringen. Dem wunderlichen Vetter verzeiht man
alles, seiner eigentümlichen Seltsamkeit und Beschränkt-

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