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ZWEITES KAPITEL
Sphären der Gesellschaft erfüllen, beweist schon die Tatsache, daß bis
heutzutage gerade im kleinen Bürgertum (abgesehen von den Höfen
selbst) noch am meisten von jenen Formen erhalten geblieben ist. Das
wiederholte Nötigen, noch etwas von einer Speise, einem Gericht zu
nehmen, das Ermutigen, noch etwas zu bleiben, das Weigern, voran-
zugehen, ist im letzten halben Jahrhundert aus den höheren bürger-
lichen Umgangsformen zum größten Teil verschwunden. Im 15. Jahr-
hundert stehen diese Formen in vollster Blüte. Während sie aber pein-
lichst beobachtet werden, trifft die Satire sie nichtsdestoweniger mit
lebendigem Spott. Vor allen Dingen ist es die Kirche, die die Schau-
bühne schöner und anhaltender Höflichkeitsbezeugungen sein muß.
Zuerst bei der „offrande“. Niemand will als erster sein Almosen auf
den Altar legen.
„Passez. — Non feray. — Or avant!
Certes si ferez, ma cousine.
— Non feray. — Huchez (ruft) no voisine,
Qu’elle doit mieux devant offrir.
— Vous ne le devriez souffrir.“
Dist la voisine: „n’appartient
A moy: offrez, qu’ä vous ne tient
Que li prestres ne se delivre“1).
Nachdem endlich die Angesehenste vorangegangen ist, unter der
demütigen Beteuerung, dies nur zu tun, um endlich ein Ende damit
zu machen, erneuert sich der Streit wiederum beim Küssen von dem
„pacificale“, la „paix“, dem hölzernen, silbernen oder elfenbeinernen
Täfelchen, das im späteren Mittelalter bei der Messe nach dem Agnus
Dei anstatt des Friedenskusses von Mund zu Mund in Aufnahme ge-
kommen war2). Daß die „paix“ unter den Vornehmen von Hand zu
Hand ging, mit der höflichen Weigerung, sie zuerst zu küssen, war zu
einer feststehenden und langwierigen Störung des Gottesdienstes
geworden.
1) Nur um Euretwillen muß der Priester warten. Deschamps, IX, Le
miroir de mariage, p. 109/110.
2) Mehrere Exemplare von solchen „paix“ bei Laborde, II, nos. 43,
45, 75, 126, 140, 5293.
ZWEITES KAPITEL
Sphären der Gesellschaft erfüllen, beweist schon die Tatsache, daß bis
heutzutage gerade im kleinen Bürgertum (abgesehen von den Höfen
selbst) noch am meisten von jenen Formen erhalten geblieben ist. Das
wiederholte Nötigen, noch etwas von einer Speise, einem Gericht zu
nehmen, das Ermutigen, noch etwas zu bleiben, das Weigern, voran-
zugehen, ist im letzten halben Jahrhundert aus den höheren bürger-
lichen Umgangsformen zum größten Teil verschwunden. Im 15. Jahr-
hundert stehen diese Formen in vollster Blüte. Während sie aber pein-
lichst beobachtet werden, trifft die Satire sie nichtsdestoweniger mit
lebendigem Spott. Vor allen Dingen ist es die Kirche, die die Schau-
bühne schöner und anhaltender Höflichkeitsbezeugungen sein muß.
Zuerst bei der „offrande“. Niemand will als erster sein Almosen auf
den Altar legen.
„Passez. — Non feray. — Or avant!
Certes si ferez, ma cousine.
— Non feray. — Huchez (ruft) no voisine,
Qu’elle doit mieux devant offrir.
— Vous ne le devriez souffrir.“
Dist la voisine: „n’appartient
A moy: offrez, qu’ä vous ne tient
Que li prestres ne se delivre“1).
Nachdem endlich die Angesehenste vorangegangen ist, unter der
demütigen Beteuerung, dies nur zu tun, um endlich ein Ende damit
zu machen, erneuert sich der Streit wiederum beim Küssen von dem
„pacificale“, la „paix“, dem hölzernen, silbernen oder elfenbeinernen
Täfelchen, das im späteren Mittelalter bei der Messe nach dem Agnus
Dei anstatt des Friedenskusses von Mund zu Mund in Aufnahme ge-
kommen war2). Daß die „paix“ unter den Vornehmen von Hand zu
Hand ging, mit der höflichen Weigerung, sie zuerst zu küssen, war zu
einer feststehenden und langwierigen Störung des Gottesdienstes
geworden.
1) Nur um Euretwillen muß der Priester warten. Deschamps, IX, Le
miroir de mariage, p. 109/110.
2) Mehrere Exemplare von solchen „paix“ bei Laborde, II, nos. 43,
45, 75, 126, 140, 5293.