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ELFTES KAPITEL
der verstorbenen Fürstinnen seiner Zeit auf dem bekannten Thema
gedenkt.
Was ist von der ganzen menschlichen Schönheit und Herrlichkeit
übriggeblieben? Erinnerung, ein Name. Aber die Wehmut dieses Ge-
dankens genügt nicht, das Bedürfnis nach eindringlichem Grausen vor
dem Tod zu befriedigen. Folglich hält die Zeit sich den Spiegel eines
sichtbareren Schreckens vor, die Vergänglichkeit auf kurzen Termin:
die Verwesung der Leiche.
Der Geist des weltverleugnenden mittelalterlichen Menschen hatte
sich schon immer gerne bei Staub und Würmern aufgehalten: in den
kirchlichen Traktaten über die Verachtung der Welt waren schon alle
Schrecken der Zersetzung heraufbeschworen. Aber die Ausmalung
der Einzelheiten dieser Vorstellung kommt erst später. Erst gegen
Ende des 14. Jahrhunderts greift die bildende Kunst zu diesem
Motiv1); es war ein gewisser Grad realistischer Ausdruckskraft dazu
nötig, um es in Skulptur oder Malerei zutreffend zu verarbeiten, und
diese Kraft war um 1400 erreicht. Zu gleicher Zeit verbreitet sich das
Motiv von der kirchlichen Literatur über die Literatur des Volks. Bis
tief in das 16. Jahrhundert hinein erblickt man an den Grabmälern
die abscheulich variierten Vorstellungen der nackten Leiche, verwest
oder zusammengeschrumpft, mit den krampfartigen Händen und Füßen
und dem klaffenden Munde, mit den sich ringelnden Würmern in den
Eingeweiden. Bei diesem Fürchterlichen will sich der Gedanke immer
wieder aufhalten. Ist es nicht seltsam, daß er sich nie einen Schritt
weiter wagt, um zu sehen, wie auch die Verwesung selbst wieder ver-
geht und zu Erde und Blumen wird?
Ist es ein wirklich frommer Gedanke, der sich so in den Abscheu
vor der irdischen Seite des Todes verstrickt? Oder ist es die Reaktion
einer allzu heftigen Sinnlichkeit, die nur auf diese Weise aus ihrem
Rausch von Lebensdrang erwachen kann? Ist es die Lebensfurcht,
die die Zeit so stark durchzieht, die Stimmung von Enttäuschung und
Entmutigung, die sich zur wahren Hingebung desjenigen, der ge-
kämpft und gesiegt hat, hinneigen möchte, die aber trotzdem noch so
dicht bei allem, was irdische Leidenschaft ist, steht? All jene Gefühls-
) Emile Male, l’Art religieux ä la fin du moyen äge, Paris 1908, p. 376.
ELFTES KAPITEL
der verstorbenen Fürstinnen seiner Zeit auf dem bekannten Thema
gedenkt.
Was ist von der ganzen menschlichen Schönheit und Herrlichkeit
übriggeblieben? Erinnerung, ein Name. Aber die Wehmut dieses Ge-
dankens genügt nicht, das Bedürfnis nach eindringlichem Grausen vor
dem Tod zu befriedigen. Folglich hält die Zeit sich den Spiegel eines
sichtbareren Schreckens vor, die Vergänglichkeit auf kurzen Termin:
die Verwesung der Leiche.
Der Geist des weltverleugnenden mittelalterlichen Menschen hatte
sich schon immer gerne bei Staub und Würmern aufgehalten: in den
kirchlichen Traktaten über die Verachtung der Welt waren schon alle
Schrecken der Zersetzung heraufbeschworen. Aber die Ausmalung
der Einzelheiten dieser Vorstellung kommt erst später. Erst gegen
Ende des 14. Jahrhunderts greift die bildende Kunst zu diesem
Motiv1); es war ein gewisser Grad realistischer Ausdruckskraft dazu
nötig, um es in Skulptur oder Malerei zutreffend zu verarbeiten, und
diese Kraft war um 1400 erreicht. Zu gleicher Zeit verbreitet sich das
Motiv von der kirchlichen Literatur über die Literatur des Volks. Bis
tief in das 16. Jahrhundert hinein erblickt man an den Grabmälern
die abscheulich variierten Vorstellungen der nackten Leiche, verwest
oder zusammengeschrumpft, mit den krampfartigen Händen und Füßen
und dem klaffenden Munde, mit den sich ringelnden Würmern in den
Eingeweiden. Bei diesem Fürchterlichen will sich der Gedanke immer
wieder aufhalten. Ist es nicht seltsam, daß er sich nie einen Schritt
weiter wagt, um zu sehen, wie auch die Verwesung selbst wieder ver-
geht und zu Erde und Blumen wird?
Ist es ein wirklich frommer Gedanke, der sich so in den Abscheu
vor der irdischen Seite des Todes verstrickt? Oder ist es die Reaktion
einer allzu heftigen Sinnlichkeit, die nur auf diese Weise aus ihrem
Rausch von Lebensdrang erwachen kann? Ist es die Lebensfurcht,
die die Zeit so stark durchzieht, die Stimmung von Enttäuschung und
Entmutigung, die sich zur wahren Hingebung desjenigen, der ge-
kämpft und gesiegt hat, hinneigen möchte, die aber trotzdem noch so
dicht bei allem, was irdische Leidenschaft ist, steht? All jene Gefühls-
) Emile Male, l’Art religieux ä la fin du moyen äge, Paris 1908, p. 376.