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ELFTES KAPITEL

jede Strophe mit einem bekannten Sprichwort abschloß, gelesen,
während sie sich mit der Gleichheit aller im Tode vertrösteten und
vor dem Ende schauderten. Nirgends war der einem Affen ähnelnde
Tod so am Platze, der grinsend, mit den Schritten eines alten steifen
Tanzmeisters, den Papst, den Kaiser, den Edelmann, den Tagelöhner,
den Mönch, das kleine Kind, den Narren und alle sonstigen Berufe
und Stände auffordert ihm zu folgen. Geben die Holzschnitte von
1485 noch einigermaßen den Eindruck der berühmten Wandmalerei
wieder? Wahrscheinlich nicht; schon die Gewandung der Figuren be-
weist, daß es keine treuen Kopien des Werkes von 1424 gewesen
sind. Um sich einigermaßen eine Vorstellung von dem Eindruck des
Totentanzes der Innocents zu machen, müßte man sich eher jenen aus
der Kirche von La Chaise-Dieur) ansehen, bei dem das Gespenster-
hafte noch durch den halb vollendeten Zustand der Malerei erhöht wird.
Der Leichnam, der vierzigmal wiederkehrt, um den Lebenden zu
holen, ist eigentlich noch nicht der Tod, sondern der Tote. Die Verse
nennen die Figur Le mort (beim Totentanz der Frauen La morte);
es ist ein Tanz der Toten, nicht des Todes2). Es ist auch hier kein
Gerippe, sondern ein noch nicht ganz entfleischter Körper mit dem
aufgeschlitzten hohlen Bauch. Erst um 1500 wird die Gestalt des großen
Tänzers zum Gerippe, so wie wir sie von Holbein kennen. Mittlerweile
hat sich dann zugleich die Vorstellung eines unbestimmten toten Doppel-
gängers zu der des Todes als aktiven, persönlichen Lebensbeschließers
kondensiert. „Yo so la Muerte cierta ä todas criaturas“, so beginnt der
eindrucksvolle spanische Totentanz aus dem Ende des 15. Jahr-
hunderts 3). In dem älteren Totentanz ist der unermüdliche Tänzer noch
der Lebende selbst, so wie er in der nächsten Zukunft sein wird, eine
beängstigende Verdoppelung seiner Person, das Bild, das er im Spiegel

*) Einige Reproduktionen bei Male a. a. 0. und in der Gazette des beaux
arts 1918, avril-juin, p. 167.
2) Durch die Untersuchungen von Huet a. a. 0. ist wahrscheinlich gemacht,
daß ein Reigen von Toten das ursprüngliche Motiv gewesen ist, zu dem Goethe
in seinem Totentanz zurückkehrte.
3) Früher mit Unrecht für älter (etwa 1350) gehalten. Vgl. G. Ticknor,
Geschichte der schönen Literatur in Spanien (ursprüngl. englisch), I, p. 77, II,
p. 598; Gröbers Grundriß, II1, p. 1180, II2, 428.
 
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