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DREIZEHNTES KAPITEL

Ruhe kennt er nicht. Er sagt täglich fast den ganzen Psalter auf:
wenigstens die Hälfte ist notwendig, erklärt er. Bei jeder Beschäftigung,
beim An- und Auskleiden betet er. Nach den Metten, wenn die andern
wieder zur Ruhe gehen, bleibt er wach. Er ist stark und groß und
kann seinem Körper alles zumuten. Ich habe einen eisernen Kopf
und einen kupfernen Magen, sagt er. Ohne Übelkeit, ja mit Vorliebe,
genießt er verdorbene Speisen: Butter mit Würmern, Kirschen von
Schnecken angefressen; diese Art von Ungeziefer hat kein tödliches
Gift, sagt er, man kann sie ruhig essen. Zu salzige Heringe hängt er
auf, bis sie faulen; ich esse lieber stinkende als salzige Dinge1).
Die ganze Denkarbeit der tiefsten theologischen Spekulation und
Definition verrichtet er, nicht in einem unbewegten gleichmäßigen Ge-
lehrtenleben, sondern unter den fortwährenden Erschütterungen eines
Geistes, der empfänglich für jede heftige Erregung des Übernatür-
lichen ist. Als Knabe steht er nachts im Mondlicht auf, weil er meint,
daß es Zeit sei, zur Schule zu gehen2)- Er ist ein Stotterer: „Tater-
bek“ schilt ihn ein Teufel, den er austreiben will. Er sieht das
Zimmer der sterbenden Frau von Vlodrop voller Teufel; sie schlagen
ihm den Stock aus der Hand. Niemand hat die fürchterliche Be-
klemmung der „vier Äußersten“ so durchgemacht wie er; der heftige
Angriff der Teufel beim Sterben ist ein wiederholter Gegenstand
seiner Predigten. Er verkehrt fortwährend mit Verstorbenen. Ob
ihm oft Geister Verstorbener erscheinen? fragt ihn ein Bruder. 0, zu
hunderten und hunderten Malen, antwortet er. Er erkennt seinen
Vater im Fegefeuer wieder und verwirft dessen Befreiung. Seine Er-
scheinungen, Offenbarungen und Visionen erfüllen ihn unaufhörlich,
aber er spricht nur mit Widerstreben davon. Er schämt sich der Ek-
stasen, die ihm durch allerlei äußere Anlässe zuteil werden: vor allem
durch Musik, manchmal inmitten einer adligen Gesellschaft, die seiner
Weisheit und seinen Ermahnungen lauscht. Unter den Ehrennamen
der großen Theologen ist seiner der des Docior ecstaticus.
Man glaube nur nicht, daß es einer großen Gestalt wie der des
Dionysius des Karthäusers an Verdächtigungen und Spott, wie sie

*) Vita, Opera, t. I, p. xxvi.
2) De munificentia et beneficiis Dei, Opera, t. XXXIV, art. 26, p. 319.
 
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