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I. Hypotaktische (perspektivische) und parataktische
(vorperspektivische) Vorstellung und Komposition

Ein jeder, der bildnerische Phantasie besitzt, wird sich eine beliebig bewegte menschliche
Figur vorstellen können. Er wird sie je nach der Stärke seiner Begabung verschieden deutlich vor
sich sehen und erkennen, wie ein Glied das andere in seiner Bewegung bedingt, wie die Aktion der
Beine auf den Rumpf wirkt und die Haltung der Arme im engsten Zusammenhang mit der Be-
wegung von Schultern und Oberkörper steht. Die Figur wird sich ihm als einheitliches, gleichsam
von einem Zentrum aus regiertes Gebilde darstellen. Diese seine Auffassung der menschlichen Ge-
stalt wird er als Grundlage der Komposition in der Kunst des Abendlandes wiederfinden. Ob es
sich nun um ein Werk des Lysipp oder des Michelangelo handelt, jedesmal ruht (soweit es sich um
die formale Gestaltung allein handelt) ein Hauptinteresse des Künstlers auf der Darstellung der
im körperlichen Organismus gegebenen Beziehungen. Als Beispiel für eine solche Auffassungs-
und Gestaltungsart, die „wir organistisch nennen wollen, sei die Statue des „Hellenistischen Herr-
schers" aus der ersten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts hier abgebildet (Taf. I;
Rom, Heibig-Amelung, Führer 1347).

So natürlich auch eine derartige organistische1) Vorstellungsweise erscheinen mag, ist sie
doch nicht ohne weiteres gegeben. Denn neben diesem Bilde, das den durch sich in allen seinen Partien
bestimmten Organismus darstellt und das hypotaktischer Natur ist, insofern alle seine Bewegungs-
komplexe aufeinander Bezug nehmen, ineinanderwirken und „gleichsam von einem Punkt aus
regiert, um einen Kern versammelt"2) und ihm untergeordnet zu sein scheinen, können wir in unserer
Vorstellung ein ganz anderes Abbild der menschlichen Figur hervorrufen, indem wir von den ein-
zelnen Körperteilen ausgehen, deren Vorhandensein für die menschliche Erscheinung besonders
charakteristisch ist. Charakteristisch ist aber für den Menschen, daß er einen Kopf, einen Rümpf
und vier Gliedmaßen hat. Dabei wird ein jeder dieser Teile in seiner ihm besonders eigentümlichen,
charakteristischen Form geschaut, durch die der Unterschied vom anderen und das eigene Wesen
am deutlichsten und klarsten zum Ausdruck gebracht wird. Das Einzelne wird also, indem sein
Wesen, seine äQevrj nicht als Ergebnis der Beziehung auf die Gesamtheit des Organismus er-
kannt, sondern in seinem nur ihm eigentümlichen charakteristischen Bilde erblickt wird, im Ver-
bände des Ganzen selbständig und dem Nachbarteil als im Wesen, im Charakter andersartig gegen-
übergesetzt und gewissermaßen angefügt. Neben dem hypotaktischen Bilde der menschlichen
Figur lebt in uns also noch ein zweites, das parataktisch aufgebaut von der Charakterisierung des
Einzelnen zur Charakterisierung des Ganzen gelangt. Es hat einen — so möchte man sagen —
erzählenden Charakter, indem es von einem Punkt zu dem anderen schreitet, die Teile beschreibt
 
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