Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
264

Illustrirte Welt.




niederen


nnd neue

er, wenn auch keinen Ersah, so doch Trost
Lebenshoffuuug gefunden. Nun war auch sie seit nahezu
Jahresfrist ihm verloren; nicht der Tod, das Leben hatte
sie ihm geraubt.
Die letzte Weihnacht noch hatten sie zusammen gefeiert
unter blauerem Himmel, umweht von milderen Lüften.
Statt des deutschen Taunenbaums hatten große Sträuße
buntfarbiger Anemonen, Krokusse, Narzissen, .Mandel-
blüten und Veilchen auf dem Weihnachtstisch gestanden;
an Stelle von Achseln und Nüssen goldfarbene Orangen,
saftige Feigen, süß duftende Mandarinen. Er hatte sein
Kind nach Italien gebracht, um ihr und sich den Schmerz
um die Mutter und Gattin zu lindern. Ach, daß er niemals
auf diesen unseligen Gedanken gekommen wäre! Schon
an jenem letzten Weihnachtsfeste unter den Blütensträußen
Neapels hatte Marianne ihm kaum noch angehört. Wenige
Wochen später sollte sich sein und ihr Geschick vollends
erfüllen. Ob zu ihrem Glück? Wer wollte es sagen!
Er hatte Marianne nicht wieder gesehen, seit sic mit
einem namenlosen italienischen Maler, der überdies keine»
Soldo in der Tasche hatte, vor den Altar getreten war.
Daß sein eigenes Leben für alle Zeiten ein zerstörtes
bleiben müsse, war
dem Grafen unab-
weisbarklar, ein zer-
störtes von dem Tage
an, da jener Maler
gleich bei der Ankunft
von Deutschland nach
Venedig ihren Weg
gekreuzt hatte. Wie
diese ersten Stunden
in Venedig plötzlich
mitten im Schnee-
treiben des Nordens
wieder vor ihm stan-
den! Mit einer Deut-
lichkeit, als habe er
sie nicht vor fünfzehn
langen Monaten, son-
dern vor kaum so vie-
len Stunden durch-
lebt.
Es war an einem
wundervollen Okto-
bertag gewesen. Mit-
tags war er mit sei-
ner Tochter von Ve-
rona gekommen, und
die Ungeduld des leb-
haften Mädchens, in
die Geheimnisse der
Lagunenstadt einzu-
dringen, war eine so
unwiderstehliche ge-
wesen, daß er schon
nach kaum einer
Stunde Rast in den
Aufbruch hatte willi-
gen müssen. Nun,
die Goudelfahrt, so
hoffte er, würde ihm
die so erwünschte

Siesta ersetzen, aber Marianne, wie in den meisten
Dingen, so auch in ihrer Weise Land und Leute
kennen zu lernen, weit anders geartet als die meisten
Mädchen ihres Alters und ihrer Erziehung, hatte
von einer Gondelfahrt nichts wissen wollen. Den
Canale grande, den Rialto, die Seufzerbrücke be-
hauptete sie nach schier tausendfältigen Schilderungen
aus- und inwendig zu kennen. Was sie reizte, war
die innere Stadt mit ihren schmalen, winkeligen
Gassen, ihren eingeengten Plätzen, ihren
Verkaufshallen und Läden, ihrem schreien-
den, gaffenden, umherlungernden Volk
in seiner Alltagslaune, das sich nicht wie
auf dem Markusplatz und auf der Piaz-
zetta zur Augenschau für die Fremden in
ein Festgewand des Wesens wie der Klei-
dung geworfen.
Und sie hatte wie immer ihren Willen
durchgesetzt. Durch enge, übelriechende
Winkel, Gassen und Thorbögen waren sie
geschritten; über den Fischmarkt mit seinen
unsauberen Steinplatten, zwischen Häu-
sern hindurch, die über die schmale Gasse
fast einander in die Arme zu stürzen
drohten, und Mariannes lebhaftem schar-
fem Auge war keine jener Eigentümlich-
keiten entgangen, die sie so mächtig nach
Venedig gezogen hatten.
Plötzlich war sie vor einem niederen,
dunklen Trödlerladen stehen geblieben.
Eine Menge unordentlich über einander
getürmter Geräte, alter Schmuck, vor
allem eine Fülle durcheinander geworfe-
ner, farbenprächtiger orientalischer Sei-
denshawls und Tücher hatten ihren Blick
angezogen. Wenige Augenblicke später waren
sie durch die schmale Thür in den dumpfen
Laden getreten. Inmitten von Ballen orien-
talischer Stoffe, Kirchengeräten, Heiligenbil-
dern, Töpfen, Krügen und Tellern hatte der
Händler mit einem italienischen Maler in
eifriger Unterhandlung über ein fahlgrünes
Meßgewand gestanden, wie es von den Prie-
stern von der Octava Epiphaniä bis zu Sep-
tuagesimä getragen wird, und von diesem
Augenblicke an war dem Vater die Tochter
verloren gewesen.
Nachdem Marianne in ihrem geläufigen
Italienisch ein buntgewirktes Seidcntuch mit
eigentümlichem byzantinischem Muster einge-
handelt — der Graf sah Farben und Muster
so deutlich vor sich, als habe er das Tuch
foeben um Mariannens Hals gelegt — und

soeben um Mariannens Hals gelegt — und der Maler
das grüne Damastgewand erworben, hatte er gleichzeitig
mit ihnen den engen, dumpfen Warenraum verlassen.
Daß er die Fremden durch das Straßenchaos zurück-
geleitet, war freilich nur eine selbstverständliche Pflicht der
Höflichkeit gewesen;
daß er sich abends
im Cafs auf dem
Markusplatz ihnen
zugesellt und ihnen in
sehr anerkennenswer-
tem Deutsch die Ge-
sellschaft glossirte, die
auf dem strahlend er-
leuchteten Platz auf
und nieder wogte,
konnte als eine durch-
aus nicht zu bean-
standende Liebens-
würdigkeit gelten, daß
er aber von nun an
tagaus tagein mit
Ausnahnie weniger
Stunden, die Ma-
rianne aufs tiefste zu
beklagen schien, kaum
noch von ihrer Seite
wich, daß er Vater
und Tochter nach kur-
zer Trennung nach
Rom und Neapel
folgte und von Ma-
rianne jubelnd will-
kommen geheißen
ward, ließ den Gra-
fen nur allzu bald zu
der schmerzlichen Er-
kenntnis kommen, daß
es nicht mehr in
menschliche Macht ge-
geben sei, diese beiden
heißen Herzen zu
trennen. Dennoch
hatte er alles an diese
Trennung gesetzt.
Er hatte einen

langen erbitterten Kampf mit seiner Tochter geführt
und dabei keine ihrer Empfindungen geschont. Armut,
Namenlosigkeit, Mangel an Erwerbsfähigkeit als Folge
absoluter Talentlosigkeit hatte er ihr rücksichtslos an
dem Geliebten vorgeworfen; er hatte ihr zugeschworen,
daß sie nicht nur des Vaters Liebe, sondern auch den
größten Teil ihres Erbes verlieren würde, denn er
würde ihr zu dieser Verbindung nicht nur jeden Pfennig
Mitgift verweigern, sondern sie dereinst auch auf ihr
Pflichtteil setzen. Nicht sein letztes und kühlstes Argu-

ment war das fremde Blut gewesen, das sich ihrer ver-
liebten Thorheit wegen mit einem Sproß der vornehmsten
deutschen Geschlechter mischen sollte, die katholische Religion,
in der sie ihre Kinder würde erziehen müssen — vergebens,
alles vergebens. Ins Elend der Sünde konnte er sie
nicht treiben, und so hatte er denn nach heftigem Kampf
seine formelle Einwilligung zur Schließung dieser Ehe
gegeben; aber er selbst war weder Zeuge der Handlung
gewesen noch hatte er Marianne oder ihren Gatten jemals
wiedergesehen oder von ihnen gehört. Eine alte Ver-
wandte hatte die stille Hochzeit ausgerichtet; sie kannte
ihren starrköpfigen Vetter und hatte geschwiegen wie das
Grab; wußte sie doch, daß er nur darum so bitter grollte,
weil er so zärtlich geliebt hatte, weit über das Maß ge-
wöhnlicher Vaterliebe hinaus.
Schärfer und unbarmherziger trieb der Dezemberwind
sein Wesen, stärker schwoll der Strom der Hinundhcr-
wandelnden.
Der tief in rückwärtige Gedanken Verlorene schlug
eine der stilleren rechtsseitigen Querstraßen der Leipziger-
straße ein; dann schritt er, langsam trotz der zunehmenden
Kälte, durch die Zimmerstraße nach Westen zurück und
auf die Wilhelmstraße zu.
Hier war die Physiognomie wie nut einem Schlage
gänzlich verändert. Hier war nichts mehr von dem rasch
vibrirenden Pulsschlag des festfrohen Lebens zu spüren,
der iu den Hauptadern des lebhaft gestikulirenden Körpers
Weltstadt schlug, hier ging alles seinen gewohnten gleich-
mäßigen Gang. Keine aufgeregten Gesichter, keine hasten-
den Schritte, keine laute Unterhaltung: eine wohlthuende
Stille umfing die breite, ruhige Straße und gab dein
lärmgewohnten Ohr das Gefühl, als ob plötzlich einem
lauttönendcn Instrument die besänftigende Sordine auf-
gesetzt worden sei.
Der kleine schwarzhaarige Bursche, der da auf geringe
Entfernung von der südlichen Richtung der Straße her
dem Grafen entgegen kam und einen großen, viereckigen,
verhüllten Gegenstand im Arm trug, war der erste, der
mit seinem fröhlichen Pfeifen diese wohlthätige Stille unter-
brach.
Aber nicht vor der Gassenmelodie, die über die ver-
gnügt gespitzten Lippen des Jungen kam, blieb der Graf
plötzlich wie eingewurzelt stehen.
Der Wind hatte einen Zipfel des Tuches gefaßt, das
über den Gegenstand gebreitet war, den der Knabe trug,
und trieb dem alten Herrn ein Stückchen des Scidentuchs
 
Annotationen