294 Illustrirte ZV e l 4
> „Ja, gut war's," nickte sie vor sich hin, „daß ich mich
noch zur rechten Zeit besann und nicht beide Zwillinge
zur Burg hinauf sandte. Hätte doch dieser plötzliche
Kindersegen leicht den Argwohn des Gatten erregen
können! Nein, nein, beide Zwillinge durften nicht in
die Burg. Doch eines von ihnen, so klein und sein, paßt
gerade recht. Und mit welcher Freude wurde das andere
in der Hütte des Jarnik ausgenommen! Die braven Leute
waren schier närrisch vor Glück. Auch kam ich gerade noch
zur rechten Zeit, denn morgen schon verlassen sie das Land."
Und nun, rasch entkleidet, legte sich Wlasda nieder
und schloß mit heiterer Miene die Augen; hatte sie doch
heute schweres Unglück verhütet und Trost und Freude
bereitet.
II.
Achtzehn Jahre sind verstrichen. Jarnik, der Fallen-
steller, welcher während dieser langen Zeit Pomeranien
nicht mehr besucht, ist Heuer zurückgekehrt und hat sich im
südlichen Teil des Grausenwaldes niedergelassen. Hier,
wo zwischen dichtem Röhricht ein dunkler Waldsee träumt
und auf Moor und Sumpf Irrlichter nachts ihren Neigen
halten, hier ragt auch a»S vielfach gewundenen Wassern,
welche rauschend der Nogat zufließen, ein Inselchen hervor.
Auf diesem hat Jarnik seine Hütte zwischen alten
Weiden errichtet und über die schmälste Wasserstelle zwei
fest zusammengefügte Bretter gelegt, welche am Tage als
Brücke dienen, nachts aber zur Sicherheit gegen wilde
Tiere aufs Inselchen zurückgezogen werden. Auch sind
es in der That nur Tiere, die er fürchtet, denn da dieser
Teil der Wildnis noch verrufener ist als der nördliche,
zeigt sich hier niemals ein Mensch, und was die Dämonen z
betrifft, so weiß er sich und sein Töchterlein durch wirk-
same Amulette vor ihnen sicher. Ebenso weiß er, daß' j
kein böser Geist seiner Hütte zu nahen wagt; hat er doch, !
bevor er sie zu flechten begann, den Platz in weitem Um- !
kreis durch heiligen Bannspruch geweiht, und daß Amulette
und Bannspruch unfehlbar wirken, haben ihm die Jahre
seines Waldlebens vollauf bewiesen.
Es ist ein schwüler Frühsommernachmittag. Still
liegt die Wildnis, und nur selten läßt sich der Ruf eines
Vogels oder das Krachen eines zusammenstürzeudcn
Baumes vernehmen. Um das Inselchen aber rauschen
die Wasser, und vor seiner Hütte, auf einem Holzblock
sitzend, ist der Fallensteller beschäftigt, aus dicken, doch
nicht langen Holzknütteln das Mark heraus zu bohren.
Einen Dachsbau hat er entdeckt, und um das Tier —
wie er hofft — noch in dieser Nacht zu fangen, bedarf er
solcher Röhren.
Wenn Wlasda jetzt den guten Jarnik sähe, sie würde
ihn auffallend gealtert finden, denn Haar und Bart sind
weiß geworden und in das sonnverbrannte Gesicht mit
den sanften Augen haben Gram und Kummer tiefe Furchen
gegraben.
Er hat aber auch gar Schweres erlebt. Nun waren
es über vier Jahre. In der großen Wildnis von Galin-
dicn hatte er mit Weib und Kind Monde verweilt und
weit mehr prächtige Otterfelle eingesammelt als je zuvor.
Voll Freude über den Reichtum, war er mit seiner lieben
Frau oft in Beratung gewesen, was sie auf dem Markt
von Julin*) gegen die Felle eintauschen würden und vor
allem, was Gorinka nun Schönes haben sollte. War doch
Gorinka stets der Liebling von Vater und Mutter, und
daß sie eigentlich nur ihr Pflegekind sei, daran dachten
beide längst nicht mehr. Ja, glücklich, sehr glücklich, hatten
die drei mit einander gelebt.
Da auf einmal Ivar das Furchtbare geschehen. Spät-
herbst war'S geworden und am folgenden Tage sollte nach
Pommern heimgekehrt werden. Jarnik hatte sich entfernt,
nm ausgestellte Fallen auseinander zu nehmen, während
sein Weib vor der Hütte die kostbaren Felle zusammen-
packte und Gorinka Beeren in der Nähe suchte.
Da plötzlich hatte diese eineu Mann mit hoch-
geschwungener Axt aus dem Gebüsch hervorspringen ge-
sehen. Ein furchtbarer Schrei. Und Jarnik, der herzu-
geeilt, hatte sein Weib mit gräßlich gespaltenem Kopf am
Boden liegend gefunden. Gorinka aber, der der Schreck
die Sprache geraubt, hatte nAr mit zitternder Hand auf
das Dickicht gewiesen, wo der Mörder mit den Fellen ver-
schwunden war.
Was weiter geschehen, Jarnik wußte es nicht zu sagen,
denn der Schmerz hatte ihm anfangs die Sinne verwirrt,
und dann war noch das Herzeleid hinzugekommen, daß
Gorinka die Sprache nicht wieder erhielt. Lne war stumm
geblieben, völlig stumm.
Dies Unglück der Tochter nagte stets am Herzen des
Vaters, während Gorinka, von ruhig sanfter Gemütsart,
kaum darunter zu leiden schien. Fleißig ihren häuslichen
Arbeiten nachgehend, saß sie oft spinnend oder Fangnctze
strickend vor der Hütte, und hinter derselben, wo Jarnik
zwischen Gebüsch einen kleinen Kochherd aus Feldsteinen
errichtet, bereitete sie das Essen. Zu diesem,welches ge-
wöhnlich aus dem Fleisch der erlegten Tiere bestand, pflegte
sie Wurzeln nnd wohlschmeckende Kräuter aus dem Walde
zu holen, wobei sie stets von einer zahmen Fischotter be-
gleitet wurde.
) Das jetzige Wollin. Damals bejuchlester Handelsplatz der Ostsee.
Während der Fallensteller an seiner letzten Röhre
bohrte, ließ sich vom nahen Waldsee her ein leichter Schritt
vernehmen. Der Alte blickte auf, und aus dem Dunkel
der Bäume trat Gorinkas schlanke Gestalt. Ihr schlichtes
Linnenkleid, von der Sonne schneeweiß gebleicht, sowie
das goldene Haar, welches lang über Rücken und Schultern
niederflutete, ließen sie einer lichten Waldfee gleichen nnd
dazu das wunderholde Antlitz mit den traumhaft schönen
Augen — wahrlich, man konnte zweifeln, nur ein einfaches
Menschenkind zu sehen.
„Was bringst Du?" ries ihr der Vater entgegen, als
sie die Insel betrat.
Sie hielt ihm eine irdene Schüssel hin, auf welcher
zwei Fische lagen, indem sie lächelnd aus die Otter zeigte.
Das kluge Tier verstand die Herrin, und sich ans
Knie des Fallenstellers schmiegend, wollte es offenbar
auch bei ihm Anerkennung finden.
„So recht, hast deine Sache gut gemacht!" lobte der
Alte, den breiten Kopf der Otter streichelnd, die er selber
jung gezähmt und mit milder Freundlichkeit zum Fisch-
fang abgerichtet hatte und deren Ehrgeiz ihm wohl be-
kannt war. „Jetzt aber muß ich fort," sagte er, sich
erhebend, indeni er die nun fertig gewordenen Röhren
nebst einem Vorrat fester Hanfschnur sich unter den Arm
schob und nach seinem Beile langte.
Gorinka gab durch Zeichen zu verstehen, daß sie mit-
gehen wolle, um Pilze zu suchen, und in ihr Kämmerlein
geeilt, kehrte sie mit einem Napf zurück, worauf sie mit
dem Vater den Weg antrat.
Doch nicht lange blieben sie beisammen, denn während
Jarnik in der Gegend des Dachsbaues verweilte, wo er
für seine Falle Aeste von einem Baume hieb, wanderte
Gorinka weiter und weiter, ohne die gehofften Pilze zu
finden.
Plötzlich hält sie horchend still. Ja, ja, es stöhnt
jemand in der Nähe. Und dem Tone folgend, steht sie
bald vor einem jungen Manne, der mit blutüberströmtem
Gesicht am Boden liegt. Unter dem verschobenen und
viel zu dicken Verbände — das Stück eines linnenen
Männerrocks, welches man offenbar in aller Eile ab-
gerissen nnd dem Verwundeten nm den Kopf gebunden
hatte — quillt unaufhörlich das Blut. Umsichtig, wie
bei all ihrem Thun, hat Gorinka sogleich in der Nähe ein
Rinnsal mit klarem Wasser entdeckt. Sie schöpft ihren
Napf voll, kniet neben dem Leidenden nieder und nachdem
sie den Verband vorsichtig abgcnommen, reißt sie zu dem-
selben passende Streifen ab. Da, im Begriff die Wunde
auszuwaschen, wird sie von einem schräg durch die Bäume
fallenden Strahl der untergehendcn Sonne mit goldenem
Schein überflutet, nnd als jetzt das kalte Wasser den
Verwundeten berührt, schlägt er die Augen auf. Große,
im Fieber leuchtende Augen, die, auf der Jungfrau haftend,
immer größer und leuchtender zu werden scheinen.
Gorinka jedoch, nur mit dem Verband beschäftigt, be-
achtet es nicht, und als sie, zufrieden mit der vollbrachten
Arbeit, sich erhebt und zur Seite tritt, bewegen sich die
bleichen Lippen des Mannes.
„Geliebte," flüstert er und streckt sehnsüchtig nach dem
Mädchen die Arme aus, doch kraftlos sind diese gleich
wieder zurückgesunken und die Augen schließend, umfängt
den Verwundeten eine tiefe Ohnmacht.
Gorinka, die das Wort nicht verstanden, will jetzt dem
Ohnmächtigen die Schläfe netzen, da hört sie rasch nahende
Männerstimmen. Sie flüchtet ins nächste Gebüsch und
hier, durchs Geäste blickend, gewahrt sie mit Staunen,
daß sie sich nicht weit von der Waldgrenze befindet, denn
drüben zwischen den Stämmen schimmert die freie Ebene.
Auch sieht sie jetzt zwei Männer mit einer Tragbahre
herankommen. Sie bleiben öfter stehen und blicken for-
schend um sich, während vom Kopfende der Bahre ein
grobbemaltes Schnitzbild des Perkunos herüberschaut,
welches man dort, offenbar zum Schutz gegen die Dä-
monen der Wildnis, mit einem Strick befestigt hatte.
„Hier in der Nähe müssen sie ihn hingelegt haben,"
hört Gorinka den einen sagen. „Preroch beschrieb mir
genau den Ort, und hier rinnt das kleine Wasser, von
dem er sprach."
„Freilich, dort liegt er ja auch!" rief der andere.
„Sieh nur, er scheint bewußtlos! Komm, heben wir ihn
vorsichtig auf die Bahre. So, und nun schnell fort aus
diesem Teufelswalde!"
Unterdessen hatte die Nacht begonnen ihre dunklen
Schleier in der Wildnis auszubreiten. Aus der Ferne
ließen Wölfe ihr Gekläff vernehmen und über dem nahen
Sumps hüpfte ein Irrlicht. Jetzt zog Gorinka ihre kleine
Rohrpfeife hervor, brachte sie an die Lippen, und ein
schriller Pfiff durchschnitt die Luft. Da, aus der Nähe
klang auch schon Jaruiks Pfeife zurück, und bald hatten
Vater und Tochter sich zum Heimgang zusammen ge-
funden.
-f-
Mittlerweile schritten die Träger mit dem Verwundeten
weiter.
„Höre," begann der eine nach längerem Schweigen,
indem er seine Stimme dämpfte. „Sehr schlimm ist's
doch, daß er so lange an dem verruchten Ort gelegen."
„Immerhin besser," klang'S zurück, „als wenn die
Bestien, die Polen, ihn zerrissen hätten."
„Versteht sich! Schlimmes ist besser, als das
Schlimmste. Wie aber mag es nur Preroch eingestellt
haben, ihn so, vom Feinde unbemerkt, in die Wildnis zu
schaffen?"
„Na, es glückte ihm eben. Und, beim Perknn, Glück
war'S anch, daß die Polen um keinen Preis den Grausen-
wald betreten! Nun biege links ab! Das ist der näckste
Weg."
Es dunkelte bereits stark, als sic zu einem See ge-
langten. Im Wasser spiegelten sich die Sterne, während
vom jenseitigen Ufer Lichter aus einem Dorf herüber-
schimmerten, und nun sie aus einem Wäldchen treten,
ragt die Burg des Stuhmer Gaues vor ihnen auf. Nur
wenige Sckwitte vom See hebt sie sich nebst dichten
Baumgruppen düster vom nächtlichen Himmel ab, und
dort vor dem Thor stehen Männer mit brennenden Fackeln.
Es sind Diener der Bnrg, welche ihren verwundeten Ge-
bieter erwarten, und kaum haben sie die Träger erblickt,
so eilen sie mit besorgten Mienen herzu. Ist es doch
Kudar, der geliebte Gauherr selber, der auf der Bahre
liegt.
Und während nun Tag auf Tag verstreicht und Kudar,
sorgfältig gepflegt, an seiner Wunde leidet, preist ihn be-
geistert das Land als Helden und Erretter.
Und zwar mit Recht, denn daß ein Raubzug der
Polen Pomeranien bedrohe, hatte niemand in der Land-
schaft geahnt, und doch waren die feindlichen Scharen
bereits diesseits der Weichsel. Am Ufer der Nogat aber
durch Mangel -an Booten zurückgehalten, sahen sie sich
gezwungen, ihren mörderischen Einfall auf den folgenden
Tag zu verschieben.
Durch Zufall erfuhr dies Kudar. Sogleich schickte
er Boten an den Reiks und die anderen Gauherren, ließ
ihnen die nahe Gefahr melden und bat, ihm schleunigst
Kriegerhaufen zu senden, denn da der Heind zuerst in
seinem Gan erscheinen mußte, galt cs ja vor allem, ihn
gleich hier znrückznschlagen.
Die Zeit war kurz bemessen, denn schon neigte sich
die Sonne zum Untergange, doch kaum stieg sie wieder
empor, so standen bereits alle streitbaren Männer des
Stuhmer Gaues unter Waffen. Auch aus anderen
Gancn zogen Scharen herbei, doch noch war die Haupt-
macht — der Reiks mit seiner berittenen Wehrmannei —
nicht cingetroffen, als ein Kundschafter die Nachricht brachte,
der Feind sei nicht mehr fern von der Ebene vor dem
Grausenwalde.
Sogleich übernahm Kudar, an Stelle des Reiks, den
Befehl, und mit Recht voraussehend, daß ohne die Wehr-
mannen deö Herrschers ein offener Angriff auf den gewiß
an Zahl überlegenen Feind mißlingen werde, legte er —
die Nähe eines Wäldchens benützend — sich hier mit
seiner Mannschaft in den Hinterhalt.
Bald erschienen nun auch die Polen auf der Ebene,
und als sie nun hier bei langsam vorsichtigem Fort-
schreiten keinem Widerstande begegneten, bogen sie plötzlich
zur Seite, offenbar in der Absicht, das nicht ferne Dörf-
chen mit Raub, Mord und Brand zu überfallen.
Da, tödliche Streiche führend, fiel ihnen Kudar mit
den Seinen in den Rücken. Ein heißes Ringen entstand,
und immer, wo die Gefahr am größten, sprengte der
Gauhcrr von Stuhm auf seinem Schimmel herzu. Un-
aufhaltsam streckte er Feind auf Feind zu Boden, und
plötzlich im Gewühl, wo hoch zu Roß der polnische An-
führer ragte, warf er sich diesem entgegen. Ein kurzer
Kampf. Mutig wehrte sich der Gegner, doch als wieder
Kudars Streitaxt aufblitzte, sank der Pole tödlich getroffen
aus dem Sattel.
Nun geriet der Feind ins Wanken. Viele flohen,
andere kämpften weiter, und jetzt, von einem Hieb ge-
troffen, sank auch Kudar zu Boden.
Doch nicht lange mehr währte der Kampf. Die letzten
Streiter ergriffen die Flucht, und dem Reiks, der eben
anlangte, blieb nur übrig, mit seinen Reitern den Feind
bis zur Nogat zu verfolgen. Hier war kein Boot am
Ufer und in wilder Hast stürzten sich die Polen ins
Wasser. Viele schwammen durch, andere ertranken, und
eine große Zahl wurde gefangen genommen. Vornehme
Jünglinge waren darunter, Söhne von Kniasten und
Woiwoden, und indem der Herrscher diese als Geiseln
behielt, hatte Pomeranien nun wohl lange Ruhe vor den
Polen.
III.
Durch Beschwerden des Alters an ihrer ärztlichen
Thätigkeit gehindert, hatte die weise WlaSda bereits vor
Jahren Pomeranien verlassen und war nach Pommern in
ihr heimatliches Dorf zurückgekehrt. Ihr vormaliges
Häuschen bewohnte jetzt eine Wollenwebcrin, deren kunst-
volle Arbeit von den Vornehmen der Gegend hoch geschäht
und sogar den berühmten flamändischen Tuchen vorgezogen
wurde, welche vom Markt zu Julin ins Land kamen.
Eben hatte die rasch zunehmende Abenddämmerung
die Weberin gezwungen, ihre Arbeit einzustellen, und
während sie dieselbe noch mit sauberen Linnen umhüllte,
trat Pogeza, die alte Dienerin der Burg, mit freundlichem
Kopsnicken ein.
„Ich komme," sagte sie, „das weiße Tuch für die
Pricstergewänder zu holen. Es ist doch fertig?"
> „Ja, gut war's," nickte sie vor sich hin, „daß ich mich
noch zur rechten Zeit besann und nicht beide Zwillinge
zur Burg hinauf sandte. Hätte doch dieser plötzliche
Kindersegen leicht den Argwohn des Gatten erregen
können! Nein, nein, beide Zwillinge durften nicht in
die Burg. Doch eines von ihnen, so klein und sein, paßt
gerade recht. Und mit welcher Freude wurde das andere
in der Hütte des Jarnik ausgenommen! Die braven Leute
waren schier närrisch vor Glück. Auch kam ich gerade noch
zur rechten Zeit, denn morgen schon verlassen sie das Land."
Und nun, rasch entkleidet, legte sich Wlasda nieder
und schloß mit heiterer Miene die Augen; hatte sie doch
heute schweres Unglück verhütet und Trost und Freude
bereitet.
II.
Achtzehn Jahre sind verstrichen. Jarnik, der Fallen-
steller, welcher während dieser langen Zeit Pomeranien
nicht mehr besucht, ist Heuer zurückgekehrt und hat sich im
südlichen Teil des Grausenwaldes niedergelassen. Hier,
wo zwischen dichtem Röhricht ein dunkler Waldsee träumt
und auf Moor und Sumpf Irrlichter nachts ihren Neigen
halten, hier ragt auch a»S vielfach gewundenen Wassern,
welche rauschend der Nogat zufließen, ein Inselchen hervor.
Auf diesem hat Jarnik seine Hütte zwischen alten
Weiden errichtet und über die schmälste Wasserstelle zwei
fest zusammengefügte Bretter gelegt, welche am Tage als
Brücke dienen, nachts aber zur Sicherheit gegen wilde
Tiere aufs Inselchen zurückgezogen werden. Auch sind
es in der That nur Tiere, die er fürchtet, denn da dieser
Teil der Wildnis noch verrufener ist als der nördliche,
zeigt sich hier niemals ein Mensch, und was die Dämonen z
betrifft, so weiß er sich und sein Töchterlein durch wirk-
same Amulette vor ihnen sicher. Ebenso weiß er, daß' j
kein böser Geist seiner Hütte zu nahen wagt; hat er doch, !
bevor er sie zu flechten begann, den Platz in weitem Um- !
kreis durch heiligen Bannspruch geweiht, und daß Amulette
und Bannspruch unfehlbar wirken, haben ihm die Jahre
seines Waldlebens vollauf bewiesen.
Es ist ein schwüler Frühsommernachmittag. Still
liegt die Wildnis, und nur selten läßt sich der Ruf eines
Vogels oder das Krachen eines zusammenstürzeudcn
Baumes vernehmen. Um das Inselchen aber rauschen
die Wasser, und vor seiner Hütte, auf einem Holzblock
sitzend, ist der Fallensteller beschäftigt, aus dicken, doch
nicht langen Holzknütteln das Mark heraus zu bohren.
Einen Dachsbau hat er entdeckt, und um das Tier —
wie er hofft — noch in dieser Nacht zu fangen, bedarf er
solcher Röhren.
Wenn Wlasda jetzt den guten Jarnik sähe, sie würde
ihn auffallend gealtert finden, denn Haar und Bart sind
weiß geworden und in das sonnverbrannte Gesicht mit
den sanften Augen haben Gram und Kummer tiefe Furchen
gegraben.
Er hat aber auch gar Schweres erlebt. Nun waren
es über vier Jahre. In der großen Wildnis von Galin-
dicn hatte er mit Weib und Kind Monde verweilt und
weit mehr prächtige Otterfelle eingesammelt als je zuvor.
Voll Freude über den Reichtum, war er mit seiner lieben
Frau oft in Beratung gewesen, was sie auf dem Markt
von Julin*) gegen die Felle eintauschen würden und vor
allem, was Gorinka nun Schönes haben sollte. War doch
Gorinka stets der Liebling von Vater und Mutter, und
daß sie eigentlich nur ihr Pflegekind sei, daran dachten
beide längst nicht mehr. Ja, glücklich, sehr glücklich, hatten
die drei mit einander gelebt.
Da auf einmal Ivar das Furchtbare geschehen. Spät-
herbst war'S geworden und am folgenden Tage sollte nach
Pommern heimgekehrt werden. Jarnik hatte sich entfernt,
nm ausgestellte Fallen auseinander zu nehmen, während
sein Weib vor der Hütte die kostbaren Felle zusammen-
packte und Gorinka Beeren in der Nähe suchte.
Da plötzlich hatte diese eineu Mann mit hoch-
geschwungener Axt aus dem Gebüsch hervorspringen ge-
sehen. Ein furchtbarer Schrei. Und Jarnik, der herzu-
geeilt, hatte sein Weib mit gräßlich gespaltenem Kopf am
Boden liegend gefunden. Gorinka aber, der der Schreck
die Sprache geraubt, hatte nAr mit zitternder Hand auf
das Dickicht gewiesen, wo der Mörder mit den Fellen ver-
schwunden war.
Was weiter geschehen, Jarnik wußte es nicht zu sagen,
denn der Schmerz hatte ihm anfangs die Sinne verwirrt,
und dann war noch das Herzeleid hinzugekommen, daß
Gorinka die Sprache nicht wieder erhielt. Lne war stumm
geblieben, völlig stumm.
Dies Unglück der Tochter nagte stets am Herzen des
Vaters, während Gorinka, von ruhig sanfter Gemütsart,
kaum darunter zu leiden schien. Fleißig ihren häuslichen
Arbeiten nachgehend, saß sie oft spinnend oder Fangnctze
strickend vor der Hütte, und hinter derselben, wo Jarnik
zwischen Gebüsch einen kleinen Kochherd aus Feldsteinen
errichtet, bereitete sie das Essen. Zu diesem,welches ge-
wöhnlich aus dem Fleisch der erlegten Tiere bestand, pflegte
sie Wurzeln nnd wohlschmeckende Kräuter aus dem Walde
zu holen, wobei sie stets von einer zahmen Fischotter be-
gleitet wurde.
) Das jetzige Wollin. Damals bejuchlester Handelsplatz der Ostsee.
Während der Fallensteller an seiner letzten Röhre
bohrte, ließ sich vom nahen Waldsee her ein leichter Schritt
vernehmen. Der Alte blickte auf, und aus dem Dunkel
der Bäume trat Gorinkas schlanke Gestalt. Ihr schlichtes
Linnenkleid, von der Sonne schneeweiß gebleicht, sowie
das goldene Haar, welches lang über Rücken und Schultern
niederflutete, ließen sie einer lichten Waldfee gleichen nnd
dazu das wunderholde Antlitz mit den traumhaft schönen
Augen — wahrlich, man konnte zweifeln, nur ein einfaches
Menschenkind zu sehen.
„Was bringst Du?" ries ihr der Vater entgegen, als
sie die Insel betrat.
Sie hielt ihm eine irdene Schüssel hin, auf welcher
zwei Fische lagen, indem sie lächelnd aus die Otter zeigte.
Das kluge Tier verstand die Herrin, und sich ans
Knie des Fallenstellers schmiegend, wollte es offenbar
auch bei ihm Anerkennung finden.
„So recht, hast deine Sache gut gemacht!" lobte der
Alte, den breiten Kopf der Otter streichelnd, die er selber
jung gezähmt und mit milder Freundlichkeit zum Fisch-
fang abgerichtet hatte und deren Ehrgeiz ihm wohl be-
kannt war. „Jetzt aber muß ich fort," sagte er, sich
erhebend, indeni er die nun fertig gewordenen Röhren
nebst einem Vorrat fester Hanfschnur sich unter den Arm
schob und nach seinem Beile langte.
Gorinka gab durch Zeichen zu verstehen, daß sie mit-
gehen wolle, um Pilze zu suchen, und in ihr Kämmerlein
geeilt, kehrte sie mit einem Napf zurück, worauf sie mit
dem Vater den Weg antrat.
Doch nicht lange blieben sie beisammen, denn während
Jarnik in der Gegend des Dachsbaues verweilte, wo er
für seine Falle Aeste von einem Baume hieb, wanderte
Gorinka weiter und weiter, ohne die gehofften Pilze zu
finden.
Plötzlich hält sie horchend still. Ja, ja, es stöhnt
jemand in der Nähe. Und dem Tone folgend, steht sie
bald vor einem jungen Manne, der mit blutüberströmtem
Gesicht am Boden liegt. Unter dem verschobenen und
viel zu dicken Verbände — das Stück eines linnenen
Männerrocks, welches man offenbar in aller Eile ab-
gerissen nnd dem Verwundeten nm den Kopf gebunden
hatte — quillt unaufhörlich das Blut. Umsichtig, wie
bei all ihrem Thun, hat Gorinka sogleich in der Nähe ein
Rinnsal mit klarem Wasser entdeckt. Sie schöpft ihren
Napf voll, kniet neben dem Leidenden nieder und nachdem
sie den Verband vorsichtig abgcnommen, reißt sie zu dem-
selben passende Streifen ab. Da, im Begriff die Wunde
auszuwaschen, wird sie von einem schräg durch die Bäume
fallenden Strahl der untergehendcn Sonne mit goldenem
Schein überflutet, nnd als jetzt das kalte Wasser den
Verwundeten berührt, schlägt er die Augen auf. Große,
im Fieber leuchtende Augen, die, auf der Jungfrau haftend,
immer größer und leuchtender zu werden scheinen.
Gorinka jedoch, nur mit dem Verband beschäftigt, be-
achtet es nicht, und als sie, zufrieden mit der vollbrachten
Arbeit, sich erhebt und zur Seite tritt, bewegen sich die
bleichen Lippen des Mannes.
„Geliebte," flüstert er und streckt sehnsüchtig nach dem
Mädchen die Arme aus, doch kraftlos sind diese gleich
wieder zurückgesunken und die Augen schließend, umfängt
den Verwundeten eine tiefe Ohnmacht.
Gorinka, die das Wort nicht verstanden, will jetzt dem
Ohnmächtigen die Schläfe netzen, da hört sie rasch nahende
Männerstimmen. Sie flüchtet ins nächste Gebüsch und
hier, durchs Geäste blickend, gewahrt sie mit Staunen,
daß sie sich nicht weit von der Waldgrenze befindet, denn
drüben zwischen den Stämmen schimmert die freie Ebene.
Auch sieht sie jetzt zwei Männer mit einer Tragbahre
herankommen. Sie bleiben öfter stehen und blicken for-
schend um sich, während vom Kopfende der Bahre ein
grobbemaltes Schnitzbild des Perkunos herüberschaut,
welches man dort, offenbar zum Schutz gegen die Dä-
monen der Wildnis, mit einem Strick befestigt hatte.
„Hier in der Nähe müssen sie ihn hingelegt haben,"
hört Gorinka den einen sagen. „Preroch beschrieb mir
genau den Ort, und hier rinnt das kleine Wasser, von
dem er sprach."
„Freilich, dort liegt er ja auch!" rief der andere.
„Sieh nur, er scheint bewußtlos! Komm, heben wir ihn
vorsichtig auf die Bahre. So, und nun schnell fort aus
diesem Teufelswalde!"
Unterdessen hatte die Nacht begonnen ihre dunklen
Schleier in der Wildnis auszubreiten. Aus der Ferne
ließen Wölfe ihr Gekläff vernehmen und über dem nahen
Sumps hüpfte ein Irrlicht. Jetzt zog Gorinka ihre kleine
Rohrpfeife hervor, brachte sie an die Lippen, und ein
schriller Pfiff durchschnitt die Luft. Da, aus der Nähe
klang auch schon Jaruiks Pfeife zurück, und bald hatten
Vater und Tochter sich zum Heimgang zusammen ge-
funden.
-f-
Mittlerweile schritten die Träger mit dem Verwundeten
weiter.
„Höre," begann der eine nach längerem Schweigen,
indem er seine Stimme dämpfte. „Sehr schlimm ist's
doch, daß er so lange an dem verruchten Ort gelegen."
„Immerhin besser," klang'S zurück, „als wenn die
Bestien, die Polen, ihn zerrissen hätten."
„Versteht sich! Schlimmes ist besser, als das
Schlimmste. Wie aber mag es nur Preroch eingestellt
haben, ihn so, vom Feinde unbemerkt, in die Wildnis zu
schaffen?"
„Na, es glückte ihm eben. Und, beim Perknn, Glück
war'S anch, daß die Polen um keinen Preis den Grausen-
wald betreten! Nun biege links ab! Das ist der näckste
Weg."
Es dunkelte bereits stark, als sic zu einem See ge-
langten. Im Wasser spiegelten sich die Sterne, während
vom jenseitigen Ufer Lichter aus einem Dorf herüber-
schimmerten, und nun sie aus einem Wäldchen treten,
ragt die Burg des Stuhmer Gaues vor ihnen auf. Nur
wenige Sckwitte vom See hebt sie sich nebst dichten
Baumgruppen düster vom nächtlichen Himmel ab, und
dort vor dem Thor stehen Männer mit brennenden Fackeln.
Es sind Diener der Bnrg, welche ihren verwundeten Ge-
bieter erwarten, und kaum haben sie die Träger erblickt,
so eilen sie mit besorgten Mienen herzu. Ist es doch
Kudar, der geliebte Gauherr selber, der auf der Bahre
liegt.
Und während nun Tag auf Tag verstreicht und Kudar,
sorgfältig gepflegt, an seiner Wunde leidet, preist ihn be-
geistert das Land als Helden und Erretter.
Und zwar mit Recht, denn daß ein Raubzug der
Polen Pomeranien bedrohe, hatte niemand in der Land-
schaft geahnt, und doch waren die feindlichen Scharen
bereits diesseits der Weichsel. Am Ufer der Nogat aber
durch Mangel -an Booten zurückgehalten, sahen sie sich
gezwungen, ihren mörderischen Einfall auf den folgenden
Tag zu verschieben.
Durch Zufall erfuhr dies Kudar. Sogleich schickte
er Boten an den Reiks und die anderen Gauherren, ließ
ihnen die nahe Gefahr melden und bat, ihm schleunigst
Kriegerhaufen zu senden, denn da der Heind zuerst in
seinem Gan erscheinen mußte, galt cs ja vor allem, ihn
gleich hier znrückznschlagen.
Die Zeit war kurz bemessen, denn schon neigte sich
die Sonne zum Untergange, doch kaum stieg sie wieder
empor, so standen bereits alle streitbaren Männer des
Stuhmer Gaues unter Waffen. Auch aus anderen
Gancn zogen Scharen herbei, doch noch war die Haupt-
macht — der Reiks mit seiner berittenen Wehrmannei —
nicht cingetroffen, als ein Kundschafter die Nachricht brachte,
der Feind sei nicht mehr fern von der Ebene vor dem
Grausenwalde.
Sogleich übernahm Kudar, an Stelle des Reiks, den
Befehl, und mit Recht voraussehend, daß ohne die Wehr-
mannen deö Herrschers ein offener Angriff auf den gewiß
an Zahl überlegenen Feind mißlingen werde, legte er —
die Nähe eines Wäldchens benützend — sich hier mit
seiner Mannschaft in den Hinterhalt.
Bald erschienen nun auch die Polen auf der Ebene,
und als sie nun hier bei langsam vorsichtigem Fort-
schreiten keinem Widerstande begegneten, bogen sie plötzlich
zur Seite, offenbar in der Absicht, das nicht ferne Dörf-
chen mit Raub, Mord und Brand zu überfallen.
Da, tödliche Streiche führend, fiel ihnen Kudar mit
den Seinen in den Rücken. Ein heißes Ringen entstand,
und immer, wo die Gefahr am größten, sprengte der
Gauhcrr von Stuhm auf seinem Schimmel herzu. Un-
aufhaltsam streckte er Feind auf Feind zu Boden, und
plötzlich im Gewühl, wo hoch zu Roß der polnische An-
führer ragte, warf er sich diesem entgegen. Ein kurzer
Kampf. Mutig wehrte sich der Gegner, doch als wieder
Kudars Streitaxt aufblitzte, sank der Pole tödlich getroffen
aus dem Sattel.
Nun geriet der Feind ins Wanken. Viele flohen,
andere kämpften weiter, und jetzt, von einem Hieb ge-
troffen, sank auch Kudar zu Boden.
Doch nicht lange mehr währte der Kampf. Die letzten
Streiter ergriffen die Flucht, und dem Reiks, der eben
anlangte, blieb nur übrig, mit seinen Reitern den Feind
bis zur Nogat zu verfolgen. Hier war kein Boot am
Ufer und in wilder Hast stürzten sich die Polen ins
Wasser. Viele schwammen durch, andere ertranken, und
eine große Zahl wurde gefangen genommen. Vornehme
Jünglinge waren darunter, Söhne von Kniasten und
Woiwoden, und indem der Herrscher diese als Geiseln
behielt, hatte Pomeranien nun wohl lange Ruhe vor den
Polen.
III.
Durch Beschwerden des Alters an ihrer ärztlichen
Thätigkeit gehindert, hatte die weise WlaSda bereits vor
Jahren Pomeranien verlassen und war nach Pommern in
ihr heimatliches Dorf zurückgekehrt. Ihr vormaliges
Häuschen bewohnte jetzt eine Wollenwebcrin, deren kunst-
volle Arbeit von den Vornehmen der Gegend hoch geschäht
und sogar den berühmten flamändischen Tuchen vorgezogen
wurde, welche vom Markt zu Julin ins Land kamen.
Eben hatte die rasch zunehmende Abenddämmerung
die Weberin gezwungen, ihre Arbeit einzustellen, und
während sie dieselbe noch mit sauberen Linnen umhüllte,
trat Pogeza, die alte Dienerin der Burg, mit freundlichem
Kopsnicken ein.
„Ich komme," sagte sie, „das weiße Tuch für die
Pricstergewänder zu holen. Es ist doch fertig?"