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Imdahl, Max; Nay, Ernst Wilhelm [Ill.]
Ernst Wilhelm Nay, Akkord in rot und blau: 1958 — Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams Universal-Bibliothek, Band 80: Stuttgart: Reclam, 1962

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https://doi.org/10.11588/diglit.62589#0041
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ÜBER DIE FARBEN ROT UND BLAU

Rot ist unser irdischer Lebensstoff, wir sind ganz und
gar ausgekleidet von ihm. Die rote Farbe ist uns
daher nahe — so nah, daß zwischen uns und ihr kein
Raum zur Überlegung besteht. Sie ist die Farbe der rei-
nen Gegenwart; unter ihrem Zeichen verständigen wir
uns auf sprachlose Art.
Zugleich aber sind zu unserem Heile auf diese Farbe
starke Siegel gelegt. Wir begrüßen sie heftig, und wir
schrecken ebenso heftig vor ihr zurück; sie läßt den Le-
bensatem schneller, aber zugleich ängstlicher wehen. Sonst
würde die Welt einen Anblick bieten wie Blaubarts Kam-
mer und als Schauplatz wahlloser Durchdringung vom
Schein immerwährender Brände erleuchtet sein. Hiervor
bewahren uns die hütenden und die richtenden Mächte,
der fürstliche Purpur und die reine Flamme im vestali-
schen Herd.
Diese Sparsamkeit, die uns zum Ruhme gereicht, setzt
indessen das Prinzip des hohen gesetzgebenden Geistes
voraus, dem die blaue Farbe zugeordnet ist. In dieser
Farbe deuten sich die beiden Flügel des Geistes an: das
Wunderbare und das Nichts. Sie ist der Spiegel der ge-
heimnisvollen Tiefen und der unendlichen Entfernun-
gen .. .
Blau ist die Farbe der äußersten Orte und der letzten
Grade, die dem Leben verschlossen sind, so des Dunstes,
der in das Nichts verfliegt, so des Firneises und der
Kerne der Stichflammen. Ebenso dringt sie in die Schat-
ten, die Dämmerungen und die fernen Linien der Hori-
zonte ein. Sie nähert sich dem Ruhenden und weicht vor
dem Bewegten zurück.
Wenn die rote Farbe erscheint, verspüren wir eine An-
näherung und Beschleunigung der Beziehungen — das
Blaue dagegen ruft das Gefühl der Entfernung und Ver-
zögerung hervor.
Zitiert nach Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz. Hamburg
1938.

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