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Bedeutungslehre (Semantik)
similitudo eine wichtige semantische Funktion haben und nicht nur als schmücken-
des Beiwerk anzusehen sind, zeigt Seneca (Text 128). Was das Bild (imago) leistet,
veranschaulicht Text 129. Die Texte 130-134 enthalten verschiedene Formen des
Vergleichs (conlatio); in den Texten 135 u. 136 werden Beispiele (exempla) vorge-
stellt. Alle diese Texte zeigen, daß imago, conlatio und exemplum keine einheitliche
syntaktische Struktur haben. Der Komparativ-Satz (z.B. mit ut, quomodo, quam) kann
ebenso wie ein syntaktisch unabhängiger Hauptsatz oder eine Periode und eine
einfache Gleichsetzung mit t/f zur Darstellung der similitudo dienen. Demnach ist die
similitudo sowohl innerhalb der Satzgrenze als auch über diese hinaus zu be-
schreiben.
6.3 Sachfelder
Der Zusammenhang (Kohärenz) eines Textes oder Textabschnittes wird durch ver-
schiedenartige sprachliche Zeichen bewirkt und verdeutlicht. Diese Zeichen können
einzelne Wörter oder Wortkomplexe sein, die schon beim ersten Lesen eines Textes
eine bestimmte Bedeutung erkennen lassen und einem gemeinsamen Sachfeld
zuzuordnen sind (► 2.3). Wer derartige Sachfelder entdeckt, erhält bereits erste
Informationen über den Inhalt des Textes, bevor er diesen in seinen Einzelheiten zu
erfassen versucht.
137
Lugent omnes provinciae, queruntur omnes liberi populi, regna denique etiam
omnia de nostris cupiditatibus et iniuriis expostulant. Locus intra Oceanum iam
nullus est neque tarn longinquus neque tarn reconditus, quo non per haec
tempora nostrorum hominum libido iniquitasque pervaserit. Sustinere iam
populus Romanns omnium nationum non vim, non arma, non bellum, sed
luctum, lacrimas, querimonias non potest. In eins modi re ac moribus, si is, qui
erit adductus in iudicium, cum manifestis in flagitiis tenebitur, alios eadem
fecisse dicet, illi exempla non deerunt: rei publicae salus deerit, si improborum
exemplis improbi iudicio ac periculo liberabuntur. Placent vobis hominum
mores? Placet ita geri magistratus, ut geruntur? Placet socios sic tractari, ut per
haec tempora tractos videtis? Cur haec a me Opera consumitur? Quid sedetis?
Cur non in media oratione mea cbnsurgitis atque disceditis? Vultis autem
istorum audacias ac libidines aliqua ex parte resecare? Desinite dubitare, utrum
sit utilius propter multos improbos uni parcere an unius improbi supplicio
multorum improbitatem coercere. (Cicero, Verr. 2, 3, 207f.)
Es trauern alle Provinzen, es klagen alle freien Völkerschaften, ja auch alle Königreiche beschweren
sich über unsere Gier und unsere Rechtsbrüche; es gibt bis an den Ozean keinen noch so entfernten
und noch so abgelegenen Platz mehr, wohin in unserer Zeit nicht die Willkür und die Ungerechtig-
keit unserer Leute gedrungen wäre. Es ist nicht mehr der Druck, die Waffengewalt, der Krieg aller
Völker, es sind ihre Klagen, Tränen und Beschwerden, die das römische Volk nicht zu ertragen
vermag. Wenn in dieser Lage und bei derartigen Gepflogenheiten ein Angeklagter, der handgreif-
licher Schandtaten überführt ist, behauptet, andere hätten dasselbe getan, dann wird es ihm nicht an
Beispielen fehlen; doch unserem Staate fehlt es an Rücksicht auf seine Wohlfahrt, wenn sich
Schurken durch die Beispiele von Schurken dem Prozeß und der Gefahr entziehen können. Sagt
euch zu, daß man die Ämter so verwaltet, wie man sie verwaltet; sagt euch zu, daß man die
Bundesgenossen auch künftig so behandelt, wie ihr sie gegenwärtig behandelt seht? Warum wende
ich diese Mühe auf? Was sitzt ihr da? Warum erhebt ihr euch nicht mitten in meiner Rede und geht
fort? Ihr wollt vielmehr die Frechheit und die schlimmen Gelüste dieser Leute auch nur einigerma-
ßen zurückstutzen. Dann zweifelt nicht länger, was nützlich sei: wegen vieler Schurken einen
einzigen zu schonen, oder durch die Bestrafung des einen Schurken die Schurkerei vieler einzudäm-
men. (Übersetzung: Manfred Fuhrmann)
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Bedeutungslehre (Semantik)
similitudo eine wichtige semantische Funktion haben und nicht nur als schmücken-
des Beiwerk anzusehen sind, zeigt Seneca (Text 128). Was das Bild (imago) leistet,
veranschaulicht Text 129. Die Texte 130-134 enthalten verschiedene Formen des
Vergleichs (conlatio); in den Texten 135 u. 136 werden Beispiele (exempla) vorge-
stellt. Alle diese Texte zeigen, daß imago, conlatio und exemplum keine einheitliche
syntaktische Struktur haben. Der Komparativ-Satz (z.B. mit ut, quomodo, quam) kann
ebenso wie ein syntaktisch unabhängiger Hauptsatz oder eine Periode und eine
einfache Gleichsetzung mit t/f zur Darstellung der similitudo dienen. Demnach ist die
similitudo sowohl innerhalb der Satzgrenze als auch über diese hinaus zu be-
schreiben.
6.3 Sachfelder
Der Zusammenhang (Kohärenz) eines Textes oder Textabschnittes wird durch ver-
schiedenartige sprachliche Zeichen bewirkt und verdeutlicht. Diese Zeichen können
einzelne Wörter oder Wortkomplexe sein, die schon beim ersten Lesen eines Textes
eine bestimmte Bedeutung erkennen lassen und einem gemeinsamen Sachfeld
zuzuordnen sind (► 2.3). Wer derartige Sachfelder entdeckt, erhält bereits erste
Informationen über den Inhalt des Textes, bevor er diesen in seinen Einzelheiten zu
erfassen versucht.
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Lugent omnes provinciae, queruntur omnes liberi populi, regna denique etiam
omnia de nostris cupiditatibus et iniuriis expostulant. Locus intra Oceanum iam
nullus est neque tarn longinquus neque tarn reconditus, quo non per haec
tempora nostrorum hominum libido iniquitasque pervaserit. Sustinere iam
populus Romanns omnium nationum non vim, non arma, non bellum, sed
luctum, lacrimas, querimonias non potest. In eins modi re ac moribus, si is, qui
erit adductus in iudicium, cum manifestis in flagitiis tenebitur, alios eadem
fecisse dicet, illi exempla non deerunt: rei publicae salus deerit, si improborum
exemplis improbi iudicio ac periculo liberabuntur. Placent vobis hominum
mores? Placet ita geri magistratus, ut geruntur? Placet socios sic tractari, ut per
haec tempora tractos videtis? Cur haec a me Opera consumitur? Quid sedetis?
Cur non in media oratione mea cbnsurgitis atque disceditis? Vultis autem
istorum audacias ac libidines aliqua ex parte resecare? Desinite dubitare, utrum
sit utilius propter multos improbos uni parcere an unius improbi supplicio
multorum improbitatem coercere. (Cicero, Verr. 2, 3, 207f.)
Es trauern alle Provinzen, es klagen alle freien Völkerschaften, ja auch alle Königreiche beschweren
sich über unsere Gier und unsere Rechtsbrüche; es gibt bis an den Ozean keinen noch so entfernten
und noch so abgelegenen Platz mehr, wohin in unserer Zeit nicht die Willkür und die Ungerechtig-
keit unserer Leute gedrungen wäre. Es ist nicht mehr der Druck, die Waffengewalt, der Krieg aller
Völker, es sind ihre Klagen, Tränen und Beschwerden, die das römische Volk nicht zu ertragen
vermag. Wenn in dieser Lage und bei derartigen Gepflogenheiten ein Angeklagter, der handgreif-
licher Schandtaten überführt ist, behauptet, andere hätten dasselbe getan, dann wird es ihm nicht an
Beispielen fehlen; doch unserem Staate fehlt es an Rücksicht auf seine Wohlfahrt, wenn sich
Schurken durch die Beispiele von Schurken dem Prozeß und der Gefahr entziehen können. Sagt
euch zu, daß man die Ämter so verwaltet, wie man sie verwaltet; sagt euch zu, daß man die
Bundesgenossen auch künftig so behandelt, wie ihr sie gegenwärtig behandelt seht? Warum wende
ich diese Mühe auf? Was sitzt ihr da? Warum erhebt ihr euch nicht mitten in meiner Rede und geht
fort? Ihr wollt vielmehr die Frechheit und die schlimmen Gelüste dieser Leute auch nur einigerma-
ßen zurückstutzen. Dann zweifelt nicht länger, was nützlich sei: wegen vieler Schurken einen
einzigen zu schonen, oder durch die Bestrafung des einen Schurken die Schurkerei vieler einzudäm-
men. (Übersetzung: Manfred Fuhrmann)
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