Das Heroon von Gjölbaschi-Trysa.
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145. Aussenbild einer Capuaner Schale der Sammlung Czanoryski.
5. Leukippidenraub.
(Tafel XVI.)
Die Friese der Nordwand bestehen oben aus 21, unten aus 22 Steinen, von denen 9 und 8 linker-
hand den Leukippidenraub, die übrigen rechterhand eine Jagd und einen Kentaurenkampf, Beides wieder
ungesondert ineinander überlaufend, vergegenwärtigen. Der Leukippidenraub bildet die kleinere Hälfte,
welche aber die grössere in jeder Hinsicht übertrifft. Obschon durch Verwitterung namentlich nach
rechts hin stark mitgenommen, verräth der Leukippidenraub noch jetzt, dass er das anmuthigste, künst-
lerisch hervorragendste Stück des ganzen Monumentes war. In wohlerwogener, schöner Gliederung
entrollt sich eine Erzählung, die durch ihren poetischen Gehalt anzieht, in schlichter Deutlichkeit des
Vortrages fesselt und durch wirkungsvoll gesteigerte Gegensätze, man kann sagen, dramatisches Leben
entwickelt.
Der Blick haftet zunächst an dem Tempelgebäude, das in stattlicher Grösse beide Reihen einnimmt.
An seinen einst in Malerei gegliederten Massen wächst ein bedeutender Körper heraus, von dem sich die
Friese rechts und links wie Flügel ausbreiten. Die Flügel sind ungleich, da die künstlerische Mitte auch
hier neben der mathematischen liegt, doch ist die grössere Ausdehnung des rechten durch lebhaftere Bewe-
gung und gedrängtere Formenfülle des linken aufgewogen. Jedem Flügel ist eine besondere, in gewissem
Sinne selbstständige Handlung zugewiesen, aber durch Figuren, die sowohl aus dem Tempel heraus, wie
jenseits hinter ihm vom rechten Flügel her nach links hinüberlaufen, sind diese Handlungen unter sich
verknüpft und in Beziehung gesetzt. Der Tempel verbindet also von rechts nach links, er verbindet aber
auch von unten nach oben. Indem er einzelne Figuren der oberen Reihe mit seinem Dache theilweise ver-
deckt, dieselben also jenseits denken lässt, nöthigt er die Phantasie, beide Friesstreifen in einem auf-
steigenden Plane zu vereinigen, so dass man das senkrechte Uebereinander wie auf der Westwand in ein
perspectivisches Hintereinander umdenkt. In dieser Weise schliessen sich die einzelnen Theile vollkommen
zu einem Ganzen zusammen, und die dargestellte Handlung läuft wie in Rundsicht einheitlich rings um
den Tempel. Sie spielt also deutlich in seinem heiligen Bezirke, und den Hain desselben scheinen die
gekappten Bäume vorstellen zu sollen, welche rechterhand vom Tempel an den Fugen der Steine aus-
gearbeitet sind.
Mit vollendeter Klarheit ist auch die Handlung an sich zum Ausdrucke gebracht. Man sieht in
dem Heiligthume ein grosses Opfer zurüsten. Mächtige Koch- und Mischkessel, die erforderlichen Hand-
geräthe stehen bereit, Diener laufen geschäftig hin und her, um Wasser zuzutragen, und von zwei in ihre
Hantirung emsig vertieften Gruppen wird auf einem Tische ein stattlicher Widder und auf dem Erdboden
ein geschlachtetes gewaltiges Rind ausgeweidet: das Ganze eine abgeschlossene religiöse Genrescene, wie
sie in dieser Ausführlichkeit aus älterer griechischer Kunst neu ist. Aber die Festversammlung, die sich
des Opfers erfreuen sollte, ein Mann bei dem Tempel und ein aufgelöster Chor von zwölf anmuthigen
XI. 4
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145. Aussenbild einer Capuaner Schale der Sammlung Czanoryski.
5. Leukippidenraub.
(Tafel XVI.)
Die Friese der Nordwand bestehen oben aus 21, unten aus 22 Steinen, von denen 9 und 8 linker-
hand den Leukippidenraub, die übrigen rechterhand eine Jagd und einen Kentaurenkampf, Beides wieder
ungesondert ineinander überlaufend, vergegenwärtigen. Der Leukippidenraub bildet die kleinere Hälfte,
welche aber die grössere in jeder Hinsicht übertrifft. Obschon durch Verwitterung namentlich nach
rechts hin stark mitgenommen, verräth der Leukippidenraub noch jetzt, dass er das anmuthigste, künst-
lerisch hervorragendste Stück des ganzen Monumentes war. In wohlerwogener, schöner Gliederung
entrollt sich eine Erzählung, die durch ihren poetischen Gehalt anzieht, in schlichter Deutlichkeit des
Vortrages fesselt und durch wirkungsvoll gesteigerte Gegensätze, man kann sagen, dramatisches Leben
entwickelt.
Der Blick haftet zunächst an dem Tempelgebäude, das in stattlicher Grösse beide Reihen einnimmt.
An seinen einst in Malerei gegliederten Massen wächst ein bedeutender Körper heraus, von dem sich die
Friese rechts und links wie Flügel ausbreiten. Die Flügel sind ungleich, da die künstlerische Mitte auch
hier neben der mathematischen liegt, doch ist die grössere Ausdehnung des rechten durch lebhaftere Bewe-
gung und gedrängtere Formenfülle des linken aufgewogen. Jedem Flügel ist eine besondere, in gewissem
Sinne selbstständige Handlung zugewiesen, aber durch Figuren, die sowohl aus dem Tempel heraus, wie
jenseits hinter ihm vom rechten Flügel her nach links hinüberlaufen, sind diese Handlungen unter sich
verknüpft und in Beziehung gesetzt. Der Tempel verbindet also von rechts nach links, er verbindet aber
auch von unten nach oben. Indem er einzelne Figuren der oberen Reihe mit seinem Dache theilweise ver-
deckt, dieselben also jenseits denken lässt, nöthigt er die Phantasie, beide Friesstreifen in einem auf-
steigenden Plane zu vereinigen, so dass man das senkrechte Uebereinander wie auf der Westwand in ein
perspectivisches Hintereinander umdenkt. In dieser Weise schliessen sich die einzelnen Theile vollkommen
zu einem Ganzen zusammen, und die dargestellte Handlung läuft wie in Rundsicht einheitlich rings um
den Tempel. Sie spielt also deutlich in seinem heiligen Bezirke, und den Hain desselben scheinen die
gekappten Bäume vorstellen zu sollen, welche rechterhand vom Tempel an den Fugen der Steine aus-
gearbeitet sind.
Mit vollendeter Klarheit ist auch die Handlung an sich zum Ausdrucke gebracht. Man sieht in
dem Heiligthume ein grosses Opfer zurüsten. Mächtige Koch- und Mischkessel, die erforderlichen Hand-
geräthe stehen bereit, Diener laufen geschäftig hin und her, um Wasser zuzutragen, und von zwei in ihre
Hantirung emsig vertieften Gruppen wird auf einem Tische ein stattlicher Widder und auf dem Erdboden
ein geschlachtetes gewaltiges Rind ausgeweidet: das Ganze eine abgeschlossene religiöse Genrescene, wie
sie in dieser Ausführlichkeit aus älterer griechischer Kunst neu ist. Aber die Festversammlung, die sich
des Opfers erfreuen sollte, ein Mann bei dem Tempel und ein aufgelöster Chor von zwölf anmuthigen
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