Die ältesten Medaillen und die Antike.
89
Fig. 16.
Figur aus Villard's Skizzenbuch.
(Nach Lassus und Darcel.)
man sieht, eine locale Erscheinung, die in der Beschaffenheit jenes
alten Culturbodens ihre Erklärung findet. Im Norden liegt die Sache
wesentlich anders. Einzelne gelegentliche Nachahmungen der Antike
tauchen zu allen Zeiten und in allen Landen auf; ihre Aufzählung
will nichts besagen; denn auf den Gang der Kunst haben sie keinen
Einfluss gehabt. Die Münzen boten, wie gesagt, die bequemsten und
am leichtesten zu erreichenden Vorlagen.1
Interessant ist es zu beobachten, wie sich ein Künstler der aus-
gebildeten Gothik, Villard d'Honnecourt, in seinem berühmten Skizzen-
buch zur Antike stellt. Er kennt antike Monumente und zeichnet ein
gallorömisches Grabmal aus der Erinnerung (Fig. 15);2 wenn dieses
»Sarazenengrab« ein sehr seltsames Aussehen hat, so dürfen wir dem
französischen Baumeister nicht allzu gram sein; noch in den grossen
Thesauren der Antiquare des XVII. Jahrhunderts fehlt es nicht an
Gegenstücken. Aber er hat sich auch von der Antike inspiriren lassen;
die nackten jugendlichen Acte (Fig. 16) oder eine Maske, deren Haupt-
und Barthaar von Akanthusranken gebildet wird (Fig. 17), legen in
seinem tacuino Zeugniss davon ab.3 Von antiker Formgebung freilich
ist nichts zu spüren; es ist der scharfe, architektonische, echt mittel-
alterliche Stil des XIII. Jahrhunderts.
Villards' Anschauung des classischen Alterthums ist eben durchaus volksthümlich, seiner Zeit
und seiner Umgebung entsprechend. Verfehmt von der Kirche, hatten die Gebilde der Antike ein un-
heimlich dämonisches Leben gewonnen, das uns in seiner eigen-
tümlichen Phantastik ausser in den Virgilsagen am anschaulichsten
in der oft behandelten Novelle der Kaiserchronik von dem Venus-
bilde und dem Jüngling Astrolabius, der der Statue einen Ring an
den Finger steckt und dadurch ihrem bösen Zauber verfällt,4 ent-
gegentritt. Die antiken Naturwesen aber, wie Centauren und Si-
renen, waren vor die Kirchenthüren verbannt, Symbole höllischen
Truges, warnende und drohende Sinnbilder für die Gläubigen ge-
worden. Noch in Giotto's Allegorie der Keuschheit in der Unter-
kirche von San Francesco zu Assisi ist der holde Flügelknabe Eros
eine Ausgeburt der Hölle.
Aber die heitere Fabuliersucht des Mittelalters bereitete auch
diesen entthronten Göttern und Helden ein Asyl; in der romanti-
schen Poesie und Kunst leben sie fort, freilich in einem seltsamen
Mummenschanz. Wie das Mittelalter, zumal das nordländische,
sich fast immer zunächst vom Stoff, vom Inhalt beherrscht erweist
und die Bedeutung der Form ihm erst allmälig klar geworden ist,
so hat es auch von der Antike, deren Schriftsteller ja immer lebendig
geblieben sind, gleichsam nur das Gerippe des novellistischen Schatzes übernommen, es mit seinem
eigenen Fleisch und Blut umkleidet, in seine Tracht gesteckt und fröhlich-naiv, in Bild und Wort, vor
Fig. 17.
Maske aus Villard's Skizzenbuch.
(Nach Lassus und Darcel.)'
1 Beispiele von Nachahmungen antiker Münzen bei Braun, Beiträge zur Geschichte der Trierer Buchmalerei (Westdeutsche
Zeitschrift 1896, Ergänzungsheft IX, S. 32f.). — Sehr merkwürdig ist das Vorkommen eines bekannten grossgriechischen
Münztypus, des Adlers mit dem Hasen (übrigens auch auf den merkwürdigen Steinmedaillons, den »patere« der venetischen
Niederlande häufig), auf einer ungarischen Münze des Ladislaus Cumanus bei Rupp, Numi Hungariae, Ofen 1841, T. IX, n. 231.
2 Album de Villard d'Honnecourt, ed. Lassus et Darcel, pl. X: »de tel maniere fu Ii sepouture dun Sarrazin, que io
vi une fois«.
3 Album, pl. IX, XXI, XLII.
4 Kaiserchronik, Ausgabe von Massmann (Bibl. der ges. deutschen Nat.-Lit. IV, 3), Quedlinburg 1854, III, S. 921.
XVIII. 12
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Figur aus Villard's Skizzenbuch.
(Nach Lassus und Darcel.)
man sieht, eine locale Erscheinung, die in der Beschaffenheit jenes
alten Culturbodens ihre Erklärung findet. Im Norden liegt die Sache
wesentlich anders. Einzelne gelegentliche Nachahmungen der Antike
tauchen zu allen Zeiten und in allen Landen auf; ihre Aufzählung
will nichts besagen; denn auf den Gang der Kunst haben sie keinen
Einfluss gehabt. Die Münzen boten, wie gesagt, die bequemsten und
am leichtesten zu erreichenden Vorlagen.1
Interessant ist es zu beobachten, wie sich ein Künstler der aus-
gebildeten Gothik, Villard d'Honnecourt, in seinem berühmten Skizzen-
buch zur Antike stellt. Er kennt antike Monumente und zeichnet ein
gallorömisches Grabmal aus der Erinnerung (Fig. 15);2 wenn dieses
»Sarazenengrab« ein sehr seltsames Aussehen hat, so dürfen wir dem
französischen Baumeister nicht allzu gram sein; noch in den grossen
Thesauren der Antiquare des XVII. Jahrhunderts fehlt es nicht an
Gegenstücken. Aber er hat sich auch von der Antike inspiriren lassen;
die nackten jugendlichen Acte (Fig. 16) oder eine Maske, deren Haupt-
und Barthaar von Akanthusranken gebildet wird (Fig. 17), legen in
seinem tacuino Zeugniss davon ab.3 Von antiker Formgebung freilich
ist nichts zu spüren; es ist der scharfe, architektonische, echt mittel-
alterliche Stil des XIII. Jahrhunderts.
Villards' Anschauung des classischen Alterthums ist eben durchaus volksthümlich, seiner Zeit
und seiner Umgebung entsprechend. Verfehmt von der Kirche, hatten die Gebilde der Antike ein un-
heimlich dämonisches Leben gewonnen, das uns in seiner eigen-
tümlichen Phantastik ausser in den Virgilsagen am anschaulichsten
in der oft behandelten Novelle der Kaiserchronik von dem Venus-
bilde und dem Jüngling Astrolabius, der der Statue einen Ring an
den Finger steckt und dadurch ihrem bösen Zauber verfällt,4 ent-
gegentritt. Die antiken Naturwesen aber, wie Centauren und Si-
renen, waren vor die Kirchenthüren verbannt, Symbole höllischen
Truges, warnende und drohende Sinnbilder für die Gläubigen ge-
worden. Noch in Giotto's Allegorie der Keuschheit in der Unter-
kirche von San Francesco zu Assisi ist der holde Flügelknabe Eros
eine Ausgeburt der Hölle.
Aber die heitere Fabuliersucht des Mittelalters bereitete auch
diesen entthronten Göttern und Helden ein Asyl; in der romanti-
schen Poesie und Kunst leben sie fort, freilich in einem seltsamen
Mummenschanz. Wie das Mittelalter, zumal das nordländische,
sich fast immer zunächst vom Stoff, vom Inhalt beherrscht erweist
und die Bedeutung der Form ihm erst allmälig klar geworden ist,
so hat es auch von der Antike, deren Schriftsteller ja immer lebendig
geblieben sind, gleichsam nur das Gerippe des novellistischen Schatzes übernommen, es mit seinem
eigenen Fleisch und Blut umkleidet, in seine Tracht gesteckt und fröhlich-naiv, in Bild und Wort, vor
Fig. 17.
Maske aus Villard's Skizzenbuch.
(Nach Lassus und Darcel.)'
1 Beispiele von Nachahmungen antiker Münzen bei Braun, Beiträge zur Geschichte der Trierer Buchmalerei (Westdeutsche
Zeitschrift 1896, Ergänzungsheft IX, S. 32f.). — Sehr merkwürdig ist das Vorkommen eines bekannten grossgriechischen
Münztypus, des Adlers mit dem Hasen (übrigens auch auf den merkwürdigen Steinmedaillons, den »patere« der venetischen
Niederlande häufig), auf einer ungarischen Münze des Ladislaus Cumanus bei Rupp, Numi Hungariae, Ofen 1841, T. IX, n. 231.
2 Album de Villard d'Honnecourt, ed. Lassus et Darcel, pl. X: »de tel maniere fu Ii sepouture dun Sarrazin, que io
vi une fois«.
3 Album, pl. IX, XXI, XLII.
4 Kaiserchronik, Ausgabe von Massmann (Bibl. der ges. deutschen Nat.-Lit. IV, 3), Quedlinburg 1854, III, S. 921.
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