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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 20.1899

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I. Theil: Abhandlungen
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Dollmayr, Hermann: Albrecht Duerers Meerwunder
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https://doi.org/10.11588/diglit.5730#0007
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2 Hermann Dollmayr.

Das Buch der classischen Mythen war aber damit wieder einmal aufgeschlagen worden und nach
ihm griffen der Reihe nach auch alle anderen Ausleger, obschon ihnen das Glück nicht einmal mehr
so hold war wie dem Ersten, der es herbeigebracht hatte. Man wies auf die unmöglichsten Stellen
darin und A. Springer meinte sogar,1 wären wir fähig, mit den Augen des XVI. Jahrhunderts die alten
Götter- und Heldengeschichten zu lesen und den Kern der Erzählung von dem naiven Aufputze, den
das spätere Mittelalter hinzufügte, zu befreien, so würden wir erkennen, dass die Amymone mit dem
von Durer unzweifelhaft gestochenen Hercules identisch ist. In dem wohlbeleibten alten Türken,
welcher hilflos am Ufer des breiten Stromes hin und her läuft, während am jenseitigen Ufer Dejanira
gemüthlich in den Armen eines Flussgottes ruht, Hercules zu sehen, koste freilich grosse Mühe; schliess-
lich aber sei die Verballhornung der Scene nicht grösser als auf vielen Bildern des XVI. Jahrhunderts,
die das Unheil des Paris schildern. Wir wollen ihm nicht widersprechen. Manches Histörchen haben
wir darum wirklich erst spät zu enträthseln vermocht. Was aber das unsere anbelangt, so glaube ich
mit einem Verse aus Goethes Zahmen Xenien sagen zu dürfen:

Wir sind vielleicht zu antik gewesen,

Nun wollen wir es moderner lesen.

Passavant war, soweit ich es überschauen kann, der Erste,2 der darauf aufmerksam machte, dass
die Amymone offenbar dasselbe Blatt ist, das A. Dürer mit vielen anderen Stichen und Holzschnitten
zu Antwerpen verkaufte und das er im Tagebuch seiner niederländischen Reise das »Meerwunder«
nennt.3 Er hatte mit dieser Erkenntniss den Weg zur richtigen Deutung gefunden, hat ihn aber nicht
weiter verfolgt.

Das »Meerwunder«, worunter die Sprache des XVI. Jahrhunderts ein Meerungeheuer versteht, ist
kein Name, den der Meister blos des dargestellten Seegeschöpfes halber wählte; er ist sein Programm
an und für sich gewesen. Ihn trägt sowohl das Gedicht in dem Heldenbuche, das Kaspar von der Roen
für den Herzog Balthasar von Mecklenburg schrieb,4 als auch eine Historia und ein Meisterlied des
Hans Sachs,5 die alle denselben Gegenstand, nur entstellt und erweitert, behandeln.

Aus dem Meisterliede des Hans Sachs haben die Brüder Grimm einen Auszug in ihre deutschen
Sagen6 unter dem Titel »Theodelind und das Meerwunder« aufgenommen, den ich, für meine Zwecke
abermals verkürzt, hier wiedergebe. »Eines Tages wandelte Theodelind, Agilulfs Gemahlin, in
der grünen Au, nahe am Meerufer, sich zu erfrischen und Blumen zu brechen. Da stieg plötzlich
ein scheussliches Meerwunder ans Land, rauchbehaart, mit glühenden Augen, fasste die zarte Köni-
gin und überwältigte sie. Aber ein Edelmann, der in der Nähe Hirsch und Hind jagte, hörte ihr
klägliches Wehgeschrei, ritt eilends hinzu und, sobald ihn das Meerwunder kommen sah, liess es die
Königin und sprang in das Meer zurück. Der Edelmann geleitete Theodelinden heim; seit der Zeit war
ihr Herz traurig und betrübt; doch sagte sie niemand, was ihr geschehen war. Hierauf brachte sie ein
Kind zur Welt, rauch und schwarz und rothäugig, gleich seinem Vater; Agilulf erschrak innig, dass
er einen solchen Sohn erzeugt hätte; doch liess er ihn sorgfältig auferziehen. Das Kind wuchs auf und
war bös und tückisch, anderen Kindern griff es mit Fingern die Augen aus oder zerbrach ihnen Arm
und Bein, dass sich jeder vor ihm hütete wie vor dem leidigen Teufel.« Und als es älter wurde,
schwächte es die Frauen und Jungfrauen und tödtete die Männer, bis endlich der König, von ihm be-
droht, es bekämpfte und seinem Leben ein Ende machte. Auf sein Drängen gestand ihm die Königin
die Abkunft des Bösewichtes, reinigte sich aber mit Hilfe des Edelmannes, der ihr damals beigestanden
war, von jedem Verdachte, ja erklärte sich sogar bereit, das Unthier noch einmal anzulocken. Dieses

1 Albrecht Dürer, S. 3i.

2 Im Peintre-graveur, III. Bd., Nr. 71.

3 Lange und Fuhse, Dürers schriftlicher Nachlass, S. 140; Dürers Briefe und Tagebücher, herausgeg. von M. Thaus-
sing, Eitelbergers Quellenschriften, II. Bd., S. io3.

4 Dresdner Handschrift, Nr. io3.

5 Goedeke, Hans Sachs I, S. 299, und Bibliothek des Stuttgarter liter. Vereines, Bd. CLXXIX, S. 228.

6 Nr. 405.
 
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