Ein Reliquienkästchen aus Pirano.
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der Rolle überein;1 ja eine ganze Gruppe, die in der Miniatur bei der Steinigung des Achan betheiligt
ist, sehen wir in die mythologische Darstellung eines Elfenbeinreliefs versetzt (i3, Fig. 2). Die Benutzung
einer illustrirten griechischen Handschrift galt mir als sicheres Anzeichen, dass die Kästchen byzan-
tinische Producte sind.
Venturi hält die Kästchen für ein Erzeugnis des ausgehenden Alterthums und sucht die aufge-
zählten Versuche, für ihre Bestimmung Anhaltspunkte zu finden, sämmtlich als verfehlt hinzustellen.
Der Pluteus des Domes in Torcello sei eine späte Nachahmung des Elfenbeinreliefs mit den beiden
Pfauen, der Zusammenhang der übrigen von Schneider verglichenen Marmorwerke mit den Elfenbein-
schnitzereien sei nicht nachgewiesen. Dass beide Gruppen eng verwandt sind, demselben Kunstkreise
angehören müssen, wird sich im Folgenden aufs Deutlichste zeigen.
Dem Glasgefäss in San Marco wird nur eine entfernte Aehnlichkeit mit den Kästchen zugestanden;
es habe lediglich in den Ornamenten eine schwache Reminiscenz an jene Arbeiten bewahrt; seine
Figuren seien von denen der Elfenbeinreliefs sehr verschieden. In der That sind in den Medaillons
sitzende oder ruhig stehende, angelehnte Gestalten bevorzugt, so dass Venturi sie als Zeichnungen nach
antiken Statuen ansieht; die Elfenbeinsculp-
turen bieten hauptsächlich bewegte Gestalten.
Dies erklärt sich aus der Wahl der Vorbilder:
die Elfenbeinschnitzer benutzten Silbergefässe,
die stets mehrere Figuren in wechselseitigen
Beziehungen zeigten; der Glasmaler hat ge-
schnittene Steine mit Einzelfiguren nachge-
bildet, die nicht selten in alte Gefässe ein-
gelassen wurden. Gemeinschaftlich ist den
Werken jedenfalls, abgesehen von dem Orna-
ment, die Tendenz, für die figürlichen Dar-
stellungen antike Muster zu suchen.
Der Elfenbeinplatte mit Scenen aus der Geschichte Josuas bestreitet Venturi die Zugehörigkeit
zu der Gruppe der Kästchen mit profanen Bildwerken. Die Verschiedenheit offenbare sich hauptsäch-
lich in der Gewandbehandlung. Dass eine leichte Differenz besteht zwischen den Nachahmungen der
Miniatur und den übrigen Reliefs, kann uns nicht wundernehmen; denn dort musste der Schnitzer die
malerische Vorlage in seine Kunstsprache übersetzen, hier fand er directe Muster für seine Arbeit. Un-
beachtet blieben von Venturi die von mir hervorgehobenen Abweichungen der Elfenbeintafel von den
Illustrationen: im Relief entspricht die Bildung des Gesichts und der Augen, die Form der Helme, der
Schmuck der Schilde nicht den Miniaturen sondern den übrigen Elfenbeinkästchen.
Die Gruppe der Steinwerfer, welche am Verolikasten (i3, Fig. 2) dem die Europa tragenden Stier
entgegentreten, ist nach Venturis Meinung nicht der christlichen Miniatur entlehnt; der Elfenbein-
schnitzer habe vielmehr dasselbe antike Vorbild benutzt wie der Illustrator des Josuabuches. Diesem
Einwurf war ich zuvorgekommen mit der Bemerkung, dass weder in unserem Vorrath antiker Bild-
werke eine entsprechende Gruppe vorkommt noch ein Sujet vorhanden ist, in dem eine solche Gruppe
denkbar wäre. Nunmehr lassen sich auch mindestens zwei weitere Beispiele anführen für die Ent-
lehnung einiger Elfenbeinfiguren aus anderen christlichen Bildwerken. Es ist absolut sicher, dass die
beiden Jünglinge des Florentiner Kästchens (8, Fig. 3), die einem Löwen den Rachen aufreissen, Copien
eines Simson oder David sind.2 Beachtenswert ist der Gegensatz zwischen ihnen und dem löwenwürgen-
Fig. 3. Theil des Elfenbeinkästchens im Bargello zu Florenz.
1 Besonders treffende Beispiele dafür bieten die mir erst nachträglich bekannt gewordenen Reliefs, die ehemals in der
Sammlung Possenti zu Fabriano waren (41). Unter ihnen ist nicht allein eine genaue Wiederholung des einen der beiden
Boten, die dem Josua die Meldung von der Flucht der Amoriterkönige überbringen, sondern auch eine Figur aus der Gruppe der
Steinwerfer, die von links her auf Achan einstürmen, während am Verolikasten die rechts befindliche Gruppe nachgebildet ist.
2 Mit dem Löwenbändiger rechts vgl. die Daviddarstellung im Psalter Basilius 11 (976—1025. Abb. Labarte, Les arts
industriels II, Taf. 86). Parallelen zu der Figur links sind mir aus byzantinischen Werken nicht bekannt, wohl aber aus
abendländischen, z. B. Cahier und Martin, Melanges d'archeologie IV, Taf. 29.
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der Rolle überein;1 ja eine ganze Gruppe, die in der Miniatur bei der Steinigung des Achan betheiligt
ist, sehen wir in die mythologische Darstellung eines Elfenbeinreliefs versetzt (i3, Fig. 2). Die Benutzung
einer illustrirten griechischen Handschrift galt mir als sicheres Anzeichen, dass die Kästchen byzan-
tinische Producte sind.
Venturi hält die Kästchen für ein Erzeugnis des ausgehenden Alterthums und sucht die aufge-
zählten Versuche, für ihre Bestimmung Anhaltspunkte zu finden, sämmtlich als verfehlt hinzustellen.
Der Pluteus des Domes in Torcello sei eine späte Nachahmung des Elfenbeinreliefs mit den beiden
Pfauen, der Zusammenhang der übrigen von Schneider verglichenen Marmorwerke mit den Elfenbein-
schnitzereien sei nicht nachgewiesen. Dass beide Gruppen eng verwandt sind, demselben Kunstkreise
angehören müssen, wird sich im Folgenden aufs Deutlichste zeigen.
Dem Glasgefäss in San Marco wird nur eine entfernte Aehnlichkeit mit den Kästchen zugestanden;
es habe lediglich in den Ornamenten eine schwache Reminiscenz an jene Arbeiten bewahrt; seine
Figuren seien von denen der Elfenbeinreliefs sehr verschieden. In der That sind in den Medaillons
sitzende oder ruhig stehende, angelehnte Gestalten bevorzugt, so dass Venturi sie als Zeichnungen nach
antiken Statuen ansieht; die Elfenbeinsculp-
turen bieten hauptsächlich bewegte Gestalten.
Dies erklärt sich aus der Wahl der Vorbilder:
die Elfenbeinschnitzer benutzten Silbergefässe,
die stets mehrere Figuren in wechselseitigen
Beziehungen zeigten; der Glasmaler hat ge-
schnittene Steine mit Einzelfiguren nachge-
bildet, die nicht selten in alte Gefässe ein-
gelassen wurden. Gemeinschaftlich ist den
Werken jedenfalls, abgesehen von dem Orna-
ment, die Tendenz, für die figürlichen Dar-
stellungen antike Muster zu suchen.
Der Elfenbeinplatte mit Scenen aus der Geschichte Josuas bestreitet Venturi die Zugehörigkeit
zu der Gruppe der Kästchen mit profanen Bildwerken. Die Verschiedenheit offenbare sich hauptsäch-
lich in der Gewandbehandlung. Dass eine leichte Differenz besteht zwischen den Nachahmungen der
Miniatur und den übrigen Reliefs, kann uns nicht wundernehmen; denn dort musste der Schnitzer die
malerische Vorlage in seine Kunstsprache übersetzen, hier fand er directe Muster für seine Arbeit. Un-
beachtet blieben von Venturi die von mir hervorgehobenen Abweichungen der Elfenbeintafel von den
Illustrationen: im Relief entspricht die Bildung des Gesichts und der Augen, die Form der Helme, der
Schmuck der Schilde nicht den Miniaturen sondern den übrigen Elfenbeinkästchen.
Die Gruppe der Steinwerfer, welche am Verolikasten (i3, Fig. 2) dem die Europa tragenden Stier
entgegentreten, ist nach Venturis Meinung nicht der christlichen Miniatur entlehnt; der Elfenbein-
schnitzer habe vielmehr dasselbe antike Vorbild benutzt wie der Illustrator des Josuabuches. Diesem
Einwurf war ich zuvorgekommen mit der Bemerkung, dass weder in unserem Vorrath antiker Bild-
werke eine entsprechende Gruppe vorkommt noch ein Sujet vorhanden ist, in dem eine solche Gruppe
denkbar wäre. Nunmehr lassen sich auch mindestens zwei weitere Beispiele anführen für die Ent-
lehnung einiger Elfenbeinfiguren aus anderen christlichen Bildwerken. Es ist absolut sicher, dass die
beiden Jünglinge des Florentiner Kästchens (8, Fig. 3), die einem Löwen den Rachen aufreissen, Copien
eines Simson oder David sind.2 Beachtenswert ist der Gegensatz zwischen ihnen und dem löwenwürgen-
Fig. 3. Theil des Elfenbeinkästchens im Bargello zu Florenz.
1 Besonders treffende Beispiele dafür bieten die mir erst nachträglich bekannt gewordenen Reliefs, die ehemals in der
Sammlung Possenti zu Fabriano waren (41). Unter ihnen ist nicht allein eine genaue Wiederholung des einen der beiden
Boten, die dem Josua die Meldung von der Flucht der Amoriterkönige überbringen, sondern auch eine Figur aus der Gruppe der
Steinwerfer, die von links her auf Achan einstürmen, während am Verolikasten die rechts befindliche Gruppe nachgebildet ist.
2 Mit dem Löwenbändiger rechts vgl. die Daviddarstellung im Psalter Basilius 11 (976—1025. Abb. Labarte, Les arts
industriels II, Taf. 86). Parallelen zu der Figur links sind mir aus byzantinischen Werken nicht bekannt, wohl aber aus
abendländischen, z. B. Cahier und Martin, Melanges d'archeologie IV, Taf. 29.
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