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Julius von Schlosser.
einen bildet die Kreuzigung, bei dem anderen die stehende Madonna mit dem Kinde das Hauptbild,
um das sich Scenen aus der Kindheit Christi und aus der Passion sowie einzelne Heiligenfiguren (be-
sonders Petrus und Paulus) gruppiren. Auch die oberflächlichste Betrachtung zeigt, dass diese Arbeiten
der gleichen Werkstatt wie die Kästchen entstammen. Eine besondere Gruppe bilden dann innerhalb
dieser Classe die grossen, zumeist für fürstliche Besteller gearbeiteten Altaraufsätze, die auch dieselbe,
nur ins Monumentale übertragene Dreitheilung, jedoch mit feststehenden Flügeln, zeigen.
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*fc
Fig. 7. Vorderseite eines Kästchens (Nr. 122) im Besitze Sr. k. u. k. Hoheit
des Erzherzogs Franz Ferdinand von Oesterreich-Este.
Das hervorragendste hieher gehörige Denkmal ist schon äusserlich durch Grösse und kostbares
Material (Nilpferdzahn) der zu gleicher Zeit mit den Truhen in Casa Cagnola entstandene und von
Giangaleazzo Visconti ebenfalls bei Baldassarre degli Embriachi bestellte Hochaltar der Certosa von
Pavia (2-60 M. hoch). Sant' Ambrogio hat dieses bedeutende Werk mit aller wünschenswerthen
Gründlichkeit behandelt. Der reiche bildliche Inhalt führt nicht blos das Jugendleben und die Leidens-
geschichte Christi sondern auch das Erdenwallen der Madonna und charakteristischer Weise die auf
apokryphe Versionen zurückgehende Legende der heil, drei Könige vor, die, mit ihren zahlreichen genre-
haften Motiven förmlich einen kleinen Roman darstellend, dieser Bildnerschule mit ihrem vorwiegend
auf breite behagliche Erzählung gerichteten Geiste besonders sympathisch gewesen sein mag.1 Drei
andere grosse Altaraufsätze, ebenfalls unzweifelhaft der gleichen Werkstatt entstammend, zeigen die
für die ganze Schule charakteristische Verbindung mit dem Norden in besonders ausgeprägter Weise;
sie waren Bestellungen der prachtliebenden Höfe Frankreichs. Der eine, jetzt im Louvre2 (276 M. hoch),
ist von dem grossen Kunstfreunde Herzog Johann von Berry, dessen Bildnis er auch trägt, in die Abtei
1 Siehe darüber besonders Sant' Ambrogio in dem oben citirten Artikel der Lega Lombarda. Man vergleiche auch
die in der Weise eines mittelalterlichen Fabliau erzählte Geschichte der Susanna auf den Kästchen der nächsten Gruppe
sowie das vermuthlich ebenfalls einen biblischen Stoff behandelnde Kästchen in Rom (Nr. 104).
2 Molinier, Catalogue des ivoires, Nr. 112.
Julius von Schlosser.
einen bildet die Kreuzigung, bei dem anderen die stehende Madonna mit dem Kinde das Hauptbild,
um das sich Scenen aus der Kindheit Christi und aus der Passion sowie einzelne Heiligenfiguren (be-
sonders Petrus und Paulus) gruppiren. Auch die oberflächlichste Betrachtung zeigt, dass diese Arbeiten
der gleichen Werkstatt wie die Kästchen entstammen. Eine besondere Gruppe bilden dann innerhalb
dieser Classe die grossen, zumeist für fürstliche Besteller gearbeiteten Altaraufsätze, die auch dieselbe,
nur ins Monumentale übertragene Dreitheilung, jedoch mit feststehenden Flügeln, zeigen.
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Fig. 7. Vorderseite eines Kästchens (Nr. 122) im Besitze Sr. k. u. k. Hoheit
des Erzherzogs Franz Ferdinand von Oesterreich-Este.
Das hervorragendste hieher gehörige Denkmal ist schon äusserlich durch Grösse und kostbares
Material (Nilpferdzahn) der zu gleicher Zeit mit den Truhen in Casa Cagnola entstandene und von
Giangaleazzo Visconti ebenfalls bei Baldassarre degli Embriachi bestellte Hochaltar der Certosa von
Pavia (2-60 M. hoch). Sant' Ambrogio hat dieses bedeutende Werk mit aller wünschenswerthen
Gründlichkeit behandelt. Der reiche bildliche Inhalt führt nicht blos das Jugendleben und die Leidens-
geschichte Christi sondern auch das Erdenwallen der Madonna und charakteristischer Weise die auf
apokryphe Versionen zurückgehende Legende der heil, drei Könige vor, die, mit ihren zahlreichen genre-
haften Motiven förmlich einen kleinen Roman darstellend, dieser Bildnerschule mit ihrem vorwiegend
auf breite behagliche Erzählung gerichteten Geiste besonders sympathisch gewesen sein mag.1 Drei
andere grosse Altaraufsätze, ebenfalls unzweifelhaft der gleichen Werkstatt entstammend, zeigen die
für die ganze Schule charakteristische Verbindung mit dem Norden in besonders ausgeprägter Weise;
sie waren Bestellungen der prachtliebenden Höfe Frankreichs. Der eine, jetzt im Louvre2 (276 M. hoch),
ist von dem grossen Kunstfreunde Herzog Johann von Berry, dessen Bildnis er auch trägt, in die Abtei
1 Siehe darüber besonders Sant' Ambrogio in dem oben citirten Artikel der Lega Lombarda. Man vergleiche auch
die in der Weise eines mittelalterlichen Fabliau erzählte Geschichte der Susanna auf den Kästchen der nächsten Gruppe
sowie das vermuthlich ebenfalls einen biblischen Stoff behandelnde Kästchen in Rom (Nr. 104).
2 Molinier, Catalogue des ivoires, Nr. 112.