Die Werkstatt der Embriachi in Venedig.
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Kästchen v. Schneiders nach dessen geistreichem Worte das heidnische Alterthum wie in einer classi-
schen Walpurgisnacht spukhaftes Leben vortäuscht, so huschen hier, in Niederungen, die eben der erste
Strahl der Renaissancesonne streift, noch die letzten Schemen des todten Mittelalters in gespenstigem
Lemurentanz umher. Darin liegt der eigenthümliche culturhistorische Werth dieser sonst sehr un-
bedeutenden Stücke; man meint zu sehen, wie auch neue Generationen sich nur langsam und wider-
strebend von dem überlieferten Hausrath der Väter trennen und wie dieser in sich selbst abstirbt. Neu
ist an diesen Kästchen nur ein für sie geradezu charakteristischer Stoff: die mit grosser Breite und
Fig. 10. Detail des Kästchens Nr. 52.
(London.)
Ausführlichkeit, fast wie ein kleiner Roman erzählte Geschichte der biblischen Susanna, die auch auf
einem in der älteren Gruppe anscheinend nicht vertretenen Geräth, dem Kamm in Florenz (Nr. 36),
vorkommt. (Dass die Spiegel ganz in der alten Weise fortgearbeitet wurden, ist schon erwähnt worden.)1
Meint man schon in diesem neuen Stoffe, dem einzigen vernünftig erzählten der ganzen Gruppe,
einen Hauch des Quattrocento, dessen Vorliebe für genrehafte Illustration heiliger Geschichten, zu
spüren, so scheidet ein bestimmtes, ebenfalls neu auftretendes Decorationsmotiv, das einer ganz ver-
änderten Formenwelt angehört, diese Gruppe ebenso scharf von der älteren. Schon diese hatte, treu
dem architektonischen Gesammtaufbau ihrer
Truhen, die Ecken gerne als Thürmchen oder
Pfeiler mit einem eigenthümlichen Blattmotiv
(schon auf den Fragmenten in Casa Cagnola),
gebildet. Die jüngere Gruppe verwendet statt
dessen fast ausnahmslos Pilaster mit starker
Cannelirung, am Untertheil zuweilen mit
doppelten Pfeifen ausgestattet. Schon dies
allein würde genügen, um diese Kästchen
bereits in eine Zeit bewusster Nachahmung
antiker Formen, in die volle Renaissance hin-
unterzurücken. Auf den sorgfältiger ausgeführten Exemplaren, namentlich dem hervorragendsten im
South-Kensington Museum (Nr. 52; vgl. Fig. 10 u. 11), weist aber auch schon Gewandung und Formen-
gebung der Figuren, namentlich die antikisirende Kriegertracht, die von ferne an die Art der paduani-
schen Bildnerschule nach Donatello anklingt, auf eine Entstehung etwa nach der Mitte des XV. Jahr-
hunderts. Im Allgemeinen bleibt der Stil, namentlich in den untergeordneten Producten der Werkstatt,
noch ganz mittelalterlich, in der Weise der älteren Werkstatt befangen; die unverändert fortdauernde
schematische Bildung der Bäume beweist dies am besten. Auch hier ist das langsame Verebben einer
Kunstwelle zu spüren; überall stehen wir in dem engen Dunstkreise einer traditionell, handwerklich
fortarbeitenden Werkstatt, in die nur einzelne Motive ihrer mächtig fortgeschrittenen Umgebung ein-
dringen, ohne sie zu neuem Leben anzuregen und vor der Erstarrung und unaufhaltsamem Verfall zu
Fig. 11. Detail des Kästchens Nr. 52.
(London.)
1 Ich bemerke hier, dass mir das Kästchen der modenesischen Sammlung Nr. 121 mit der Geschichte des Pyramus
sowie das oben erwähnte (Nr. 20b) in Bologna als Mittelglieder zwischen der älteren und jüngeren Gruppe erscheinen.
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Kästchen v. Schneiders nach dessen geistreichem Worte das heidnische Alterthum wie in einer classi-
schen Walpurgisnacht spukhaftes Leben vortäuscht, so huschen hier, in Niederungen, die eben der erste
Strahl der Renaissancesonne streift, noch die letzten Schemen des todten Mittelalters in gespenstigem
Lemurentanz umher. Darin liegt der eigenthümliche culturhistorische Werth dieser sonst sehr un-
bedeutenden Stücke; man meint zu sehen, wie auch neue Generationen sich nur langsam und wider-
strebend von dem überlieferten Hausrath der Väter trennen und wie dieser in sich selbst abstirbt. Neu
ist an diesen Kästchen nur ein für sie geradezu charakteristischer Stoff: die mit grosser Breite und
Fig. 10. Detail des Kästchens Nr. 52.
(London.)
Ausführlichkeit, fast wie ein kleiner Roman erzählte Geschichte der biblischen Susanna, die auch auf
einem in der älteren Gruppe anscheinend nicht vertretenen Geräth, dem Kamm in Florenz (Nr. 36),
vorkommt. (Dass die Spiegel ganz in der alten Weise fortgearbeitet wurden, ist schon erwähnt worden.)1
Meint man schon in diesem neuen Stoffe, dem einzigen vernünftig erzählten der ganzen Gruppe,
einen Hauch des Quattrocento, dessen Vorliebe für genrehafte Illustration heiliger Geschichten, zu
spüren, so scheidet ein bestimmtes, ebenfalls neu auftretendes Decorationsmotiv, das einer ganz ver-
änderten Formenwelt angehört, diese Gruppe ebenso scharf von der älteren. Schon diese hatte, treu
dem architektonischen Gesammtaufbau ihrer
Truhen, die Ecken gerne als Thürmchen oder
Pfeiler mit einem eigenthümlichen Blattmotiv
(schon auf den Fragmenten in Casa Cagnola),
gebildet. Die jüngere Gruppe verwendet statt
dessen fast ausnahmslos Pilaster mit starker
Cannelirung, am Untertheil zuweilen mit
doppelten Pfeifen ausgestattet. Schon dies
allein würde genügen, um diese Kästchen
bereits in eine Zeit bewusster Nachahmung
antiker Formen, in die volle Renaissance hin-
unterzurücken. Auf den sorgfältiger ausgeführten Exemplaren, namentlich dem hervorragendsten im
South-Kensington Museum (Nr. 52; vgl. Fig. 10 u. 11), weist aber auch schon Gewandung und Formen-
gebung der Figuren, namentlich die antikisirende Kriegertracht, die von ferne an die Art der paduani-
schen Bildnerschule nach Donatello anklingt, auf eine Entstehung etwa nach der Mitte des XV. Jahr-
hunderts. Im Allgemeinen bleibt der Stil, namentlich in den untergeordneten Producten der Werkstatt,
noch ganz mittelalterlich, in der Weise der älteren Werkstatt befangen; die unverändert fortdauernde
schematische Bildung der Bäume beweist dies am besten. Auch hier ist das langsame Verebben einer
Kunstwelle zu spüren; überall stehen wir in dem engen Dunstkreise einer traditionell, handwerklich
fortarbeitenden Werkstatt, in die nur einzelne Motive ihrer mächtig fortgeschrittenen Umgebung ein-
dringen, ohne sie zu neuem Leben anzuregen und vor der Erstarrung und unaufhaltsamem Verfall zu
Fig. 11. Detail des Kästchens Nr. 52.
(London.)
1 Ich bemerke hier, dass mir das Kästchen der modenesischen Sammlung Nr. 121 mit der Geschichte des Pyramus
sowie das oben erwähnte (Nr. 20b) in Bologna als Mittelglieder zwischen der älteren und jüngeren Gruppe erscheinen.