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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 20.1899

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I. Theil: Abhandlungen
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Schlosser, Julius von: Die Werkstatt der Embriachi in Venedig
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https://doi.org/10.11588/diglit.5730#0310
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Julius von Schlosser.

hat Egidio Gorra aus dem »Chevalier errant« des Markgrafen Thomas von Saluzzo (Beginn des XV. Jahr-
hunderts) bekannt gemacht.1 Eine vergröberte und stark abweichende Fassung hat dann der »Cieco di
Ferrara«, Francesco Belli, seinem »Mambriano« einverleibt; getreu seiner burlesken Manier hat er den
Adler in eine Gans verwandelt (daher der Titel »il becco all'oca«)und das Ganze stark lasciv gefärbt.2 Am
nächsten steht die Relieferzählung dem schon zeitlich wie örtlich benachbarten »Chevalier errant«, weist
aber trotzdem Unterschiede auf, die auf eine vierte noch unbekannte Fassung schliessen lassen, wenn
man nicht annehmen will, der Elfenbeinschnitzer habe seinen Stoff frei und selbstständig behandelt.
Der Cyklus scheint mit der Werbung des Theseus, Sohnes des Grafen von Flandern, bei dem

»Kaiser von Rom« zu beginnen,
der aber dem Jüngling die Toch-
ter verweigert (I. Tafel, Streifen i;
über die nicht hieher gehörigen
Einschübe siehe oben). Theseus
sucht nun durch List zu dem in
strengstem Gewahrsam gehalte-
nen Mädchen vorzudringen und
verdingt sich zu diesem Zwecke
bei einem Goldschmied, der ihm
einen Adler aus Gold anfertigen
soll, so gross, dass sich in seiner
Höhlung ein Mann verbergen
kann. Die weitere Erzählung der
Reliefs ist mit grösster Breite und
mit vielen Wiederholungen vor-
getragen ; ich hebe nur die Haupt-
punkte, die wir in unserem Texte
wiederfinden, hervor. Wir sehen
den Goldschmied an der Arbeit,
neben ihm steht ein Kind.3 Der
Adler wird vollendet, eine Frau
(die vertraute Amme des Grafen-
sohnes?) steht neben dem fertigen
Werk. Theseus versucht den Me-
chanismus, indem er sich im Adler
verbirgt. Er nimmt herzlichen
Abschied von dem Meister; in dem künstlichen Werk versteckt, fährt er zu Schiff nach Rom. Von vier
Männern wird der Adler auf Tragstangen in den Kaiserpalast gebracht (dies Motiv im französischen
Text); wie in der Fassung des Mambriano lässt die kluge Balia Euripide den angeblichen Automaten
vor dem Kaiser und seiner Tochter allerhand Kunststücke machen, die letztere erhält ihn schliesslich
zum Geschenk. Er wird in ihre Schlafkammer gestellt; Theseus benützt die Gelegenheit und verlässt
sein Versteck, muss sich aber zurückziehen, da auf das Geschrei des erschreckten Mädchens die Kammer-
frauen herbeieilen; da sie nichts finden, tadeln sie die Jungfrau (so der französische Text). Schliesslich
erfolgt die Verständigung des Paares; die rasch verliebte Kaisertochter hilft als rechte Märchenprinzessin

Fig. 29. Vorderseite des Kästchens Nr. 102.
(Rom, Museo del Collegio Romano.)

1 Gorra, a. a. O., p. 391 ff.

2 Libro d'Arme e d'Amore nominato Mambriano, composto per Francisco Cieco da Ferrara, impressum Ferranae per
Joannem Macciochium Bondenum, Die XX. Octob. MDIX, auf fol. Bllff.

3 Vielleicht bezieht sich dies auf die (in den Reliefs übrigens nicht behandelte) Episode in der Version des Chevalier
errant, wo die Frau des Goldschmiedes den fremden Jüngling beschuldigt, ihrer Ehre nachgestellt zu haben, aber durch
ein kleines Mädchen, das ungesehen Zeugin ihres Verführungsversuches war, entlarvt wird.
 
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