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Julius von Schlosser.
liches Interesse. Mitten aus den traditionellen Formenelementen des Trecento klingt zuweilen, zwar
gedämpft, aber doch deutlich, ein Wiederhall der merkwürdigen Uebergangszeit, der sie angehören.
Ich habe schon von der auffallenden Bevorzugung der antiken Stoffe gesprochen. Darunter sind
solche, die, wie Hero und Leander, die Jugend des Paris (Darstellungen der Wettkämpfe) und die von
mir vermuthete Scene aus der Geschichte des Theseus, direct auf antike Schriftsteller, wie Ovid und
Hygin, ohne das Medium einer mittelalterlichen Bearbeitung
zurückgehen. Hier fällt uns sogleich die starke Betonung des
Nackten auf; so in den Ringerpaaren des Wiener Kästchens, so
namentlich in der Theseusdarstellung. In der That ist dies ja
das Problem, das in Italien in ganz anderer Weise als im Norden
die Geister der neuen Zeit beschäftigt, bis es mit Michelangelo zu
wahrhaft dämonischer Macht heranwächst. Die Sehnsucht nach
der ganzen harmonischen Schönheit des unbekleideten Menschen-
leibes ist ein nationales Erbe, diesen Söhnen des Südens und
Roms mit dem Blute der Ahnen überkommen. Es bedeutet einen
kühnen Schritt über das Mittelalter hinaus, dass hier in pro-
fanen Vorwürfen, nicht etwa in Stoffen, die durch religiöse
Tradition nicht nur gleichnisweise entsündigt sind (wie das erste
Elternpaar, Christus am Kreuze, die Auferstehenden etc.), das
Nackte sich hervorwagen darf. Man erinnert sich, wie lange
noch der heil. Sebastian den Vorwand zur Darstellung schöner
männlicher Acte hergeben musste. Diese kleinen Reliefs nähern
sich ihrem Geiste nach antiker Form so sehr, als es dem da-
maligen Italien möglich war; freilich ist die Behandlung noch
sehr unvollkommen. Man sieht ihr, in den kaum betonten Ge-
schlechtsunterschieden der jugendschlanken Formen, den Mangel
des Modelistudiums, zum Mindesten nach weiblichen Körpern,
deutlich an. Der Trionfo der Antike kündigt sich von ferne an;
es sind die Muse nude der neuen Zeit, nach Boccaccios merkwür-
digem Ausdrucke,1 die in das Leben Italiens einziehen, nicht
ohne Kampf und Widerstand des auch hier tief eingewurzelten
spiritualen Mittelalters. Ghibertis denkwürdiger Bericht von der
1357 in Siena ausgegrabenen und öffentlich aufgestellten antiken
Venusstatue wirft ein scharfes Licht in die Vergangenheit zurück; wie das heidnische Bildwerk auf
das Geschrei der Frommen und Abergläubischen hin als unheilbringend in seiner sündigen Nacktheit
zerschlagen und heimlich auf feindlichem Gebiete der Florentiner verscharrt wird — das alles sind
prächtige Charakterzüge des Mittelalters.2
Hier sind denn auch nochmals die wappenhaltenden nackten Putti, ein stets wiederholtes Motiv
unserer Kästchen, zu erwähnen. Ihre Herkunft von den Genien des römischen Sarkophages ist bekannt
genug;3 schon das Trecento hat sie verwendet (Trionfo della Morte in Pisa). Auch bei den Campio-
nesen bildet der nackte Putto ein wesentliches Decorationselement, so auf dem Grabmal des Can-
Fig. 35.
Detail von der Porta della Mandorla.
(Nie. Lamberti.)
1 In der Teseide, Opere volgari, XII, 84 (Flor. i83i, vol. IX):
Poiche le Muse nude cominciaro
Nel cospetto degli uomini ad andare,
Giä für di quelli i qua' l'escercitaro
Con hello Stile in onesto parlare
E altri in amoroso le operaro.
Es sind die Musen der neuen Volgaredichtung gemeint.
2 Vgl. den Bericht Ghibertis in seinem III. Commentar; Frey, Ausgewählte Biographien Vasaris, Heft III, 57.
3 Weber, Die Entwicklung des Putto in der Plastik der Frührenaissance, Heidelberg 1898, S. 13 ff.
Julius von Schlosser.
liches Interesse. Mitten aus den traditionellen Formenelementen des Trecento klingt zuweilen, zwar
gedämpft, aber doch deutlich, ein Wiederhall der merkwürdigen Uebergangszeit, der sie angehören.
Ich habe schon von der auffallenden Bevorzugung der antiken Stoffe gesprochen. Darunter sind
solche, die, wie Hero und Leander, die Jugend des Paris (Darstellungen der Wettkämpfe) und die von
mir vermuthete Scene aus der Geschichte des Theseus, direct auf antike Schriftsteller, wie Ovid und
Hygin, ohne das Medium einer mittelalterlichen Bearbeitung
zurückgehen. Hier fällt uns sogleich die starke Betonung des
Nackten auf; so in den Ringerpaaren des Wiener Kästchens, so
namentlich in der Theseusdarstellung. In der That ist dies ja
das Problem, das in Italien in ganz anderer Weise als im Norden
die Geister der neuen Zeit beschäftigt, bis es mit Michelangelo zu
wahrhaft dämonischer Macht heranwächst. Die Sehnsucht nach
der ganzen harmonischen Schönheit des unbekleideten Menschen-
leibes ist ein nationales Erbe, diesen Söhnen des Südens und
Roms mit dem Blute der Ahnen überkommen. Es bedeutet einen
kühnen Schritt über das Mittelalter hinaus, dass hier in pro-
fanen Vorwürfen, nicht etwa in Stoffen, die durch religiöse
Tradition nicht nur gleichnisweise entsündigt sind (wie das erste
Elternpaar, Christus am Kreuze, die Auferstehenden etc.), das
Nackte sich hervorwagen darf. Man erinnert sich, wie lange
noch der heil. Sebastian den Vorwand zur Darstellung schöner
männlicher Acte hergeben musste. Diese kleinen Reliefs nähern
sich ihrem Geiste nach antiker Form so sehr, als es dem da-
maligen Italien möglich war; freilich ist die Behandlung noch
sehr unvollkommen. Man sieht ihr, in den kaum betonten Ge-
schlechtsunterschieden der jugendschlanken Formen, den Mangel
des Modelistudiums, zum Mindesten nach weiblichen Körpern,
deutlich an. Der Trionfo der Antike kündigt sich von ferne an;
es sind die Muse nude der neuen Zeit, nach Boccaccios merkwür-
digem Ausdrucke,1 die in das Leben Italiens einziehen, nicht
ohne Kampf und Widerstand des auch hier tief eingewurzelten
spiritualen Mittelalters. Ghibertis denkwürdiger Bericht von der
1357 in Siena ausgegrabenen und öffentlich aufgestellten antiken
Venusstatue wirft ein scharfes Licht in die Vergangenheit zurück; wie das heidnische Bildwerk auf
das Geschrei der Frommen und Abergläubischen hin als unheilbringend in seiner sündigen Nacktheit
zerschlagen und heimlich auf feindlichem Gebiete der Florentiner verscharrt wird — das alles sind
prächtige Charakterzüge des Mittelalters.2
Hier sind denn auch nochmals die wappenhaltenden nackten Putti, ein stets wiederholtes Motiv
unserer Kästchen, zu erwähnen. Ihre Herkunft von den Genien des römischen Sarkophages ist bekannt
genug;3 schon das Trecento hat sie verwendet (Trionfo della Morte in Pisa). Auch bei den Campio-
nesen bildet der nackte Putto ein wesentliches Decorationselement, so auf dem Grabmal des Can-
Fig. 35.
Detail von der Porta della Mandorla.
(Nie. Lamberti.)
1 In der Teseide, Opere volgari, XII, 84 (Flor. i83i, vol. IX):
Poiche le Muse nude cominciaro
Nel cospetto degli uomini ad andare,
Giä für di quelli i qua' l'escercitaro
Con hello Stile in onesto parlare
E altri in amoroso le operaro.
Es sind die Musen der neuen Volgaredichtung gemeint.
2 Vgl. den Bericht Ghibertis in seinem III. Commentar; Frey, Ausgewählte Biographien Vasaris, Heft III, 57.
3 Weber, Die Entwicklung des Putto in der Plastik der Frührenaissance, Heidelberg 1898, S. 13 ff.