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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Editor]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 21.1900

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I. Theil: Abhandlungen
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Graeven, Hans: Typen der Wiener Genesis auf byzantinischen Elfenbein-Reliefs
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https://doi.org/10.11588/diglit.5733#0107
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102

Hans Graeven.

Hinter der Kampfgruppe, aber durch einen verhältnismässig grossen leeren Raum davon ge-
trennt,1 schreitet ein anderer Helmträger nach links, der die Linke mit der Lanze auf den Boden stützt,
die Rechte in der Richtung der Krieger vorstreckt. Vor seinen Füssen liegt eine ganz gleichgestaltete
Figur nach rechtshin auf dem Boden; ihre Haltung ist die der Proskynese, die hier der äussersten
Figur des Reliefs, einem Erzengel, gilt. Dieser ist in Vorderansicht dargestellt, geflügelt, angethan mit
der Tracht byzantinischer Herrscher. Seine Linke hält einen gedrechselten Stab, dessen Spitze ab-
gebrochen ist, so dass wir zweifeln können, ob er als Scepter oder als Lanzenschaft aufzufassen ist;
denn auch die Lanzenschäfte in den Händen der Krieger sind ebenso verziert.2

Die letzte Gruppe des Reliefs gibt die Erklärung des Ganzen an die Hand: es sind zwei Scenen
aus dem Kampfe der Israeliten um Jericho. »Und es begab sich«, erzählt die Schrift (Jos. 5, i3), »da
Josua bei Jericho war, dass er seine Augen aufhub und ward gewahr, dass ein Mann gegen ihm stund
und hatte ein bloss Schwert in seiner Hand. Und Josua ging zu ihm und sprach zu ihm: Gehörst du uns
an oder unseren Feinden? Er sprach: Nein, sondern ich bin ein Fürst über das Heer des Herrn und bin
jetzt gekommen. Da fiel Josua auf sein Angesicht zur Erde und betete an.« Nicht nur der vaticanische
Rotulus3 und die Oktateuche sondern auch das Menologium des Basilius (Fig. 11) und die Bronzethür
der Kirche auf Monte Sant' Angelo enthalten eine Darstellung dieser Scene, und zwar bieten sie alle den-
selben Typus. Wir sehen den Erzengel als geflügelten Krieger, gerüstet mit einem Panzer, das Haupt aber
unbedeckt,mit einer Binde in den Haaren; seine Rechte schultert in engem Anschluss an die Bibelworte4
das gezückte Schwert, dessen Scheide die Linke umfasst. Ihm gegenüber steht Josua, behelmt und ge-
panzert. Im Rotulus hält seine Linke die Lanze und der Gestus der ausgestreckten Rechten begleitet
seine Frage an den unbekannten Krieger, in den übrigen Bildwerken hält Josua ganz ähnlich dem
Engel Schwert und Scheide. Mit dem Moment der Begegnung ist in allen Bildwerken der unmittelbar
folgende Moment der Anbetung vereinigt, indem Josua noch einmal dargestellt ist, auf dem Boden
liegend mit vorgestreckten Händen.

Dem anbetenden Josua gleicht die anbetende Figur des Bologneser Reliefs; nur fehlt ihr der
Panzer. Die Richtung Josuas ist im Rotulus und in der Mehrzahl der Bildwerke von rechts nach links,
weil der Engel hier die linke Seite der Darstellung einnimmt; indess die Umkehrung der Figuren ist
dem Bologneser Relief gemeinsam mit der Miniatur des Menologiums. Dem Relief eigenthümlich ist
die Umgestaltung des Engels, der gerade die für unsere Scene charakteristischen Merkmale eingebüsst
hat, den Panzer und das blosse Schwert, dessen die Schrift Erwähnung thut. Der Costümwechsel ist
ein Symptom echt byzantinischen Geistes: dem Erzengel soll durch seine kaiserlichen Abzeichen eine
höhere Weihe gegeben werden.5 Der Stab in seiner Hand ist daher wahrscheinlich als Scepter ge-
dacht. Das Costüm besteht aus edelsteinbesetzten Schuhen, aus einer Tunica talaris mit langen engen
Aermeln, aus einer Dalmatica mit kürzeren weiten Aermeln und aus dem Umwurf, der sich aus der
späten Consulartracht entwickelt hat.6 Die Verzierung des Umwurfes durch Stickerei und Edelsteine

1 Der Grund an der leeren Stelle lässt fast eine Rasur vermuthen; man glaubt noch die unbestimmten Züge einer
später getilgten Figur zu erkennen.

2 Eine Parallele zu solchem für eine Lanze wenig geeigneten Schaft bietet die Lanze des Longinus auf einem un-
edirten Triptychon in Berlin, das sich in vielen Punkten mit dem Bologneser Relief berührt; s. unten, Anm. 5.

3 Eine Abbildung gerade dieser Scene des Rotulus nach einer Photographie in Originalgrösse findet sich bei Härtel
und Wickhoff, Die Wiener Genesis, Taf. C.

4 Die Worte der Septuaginta lauten: r) £op.ya!a autoü ianaopLEvr] äv rij ^Eipi auraü. Die Bedeutung des Wortes £optpaioc ist
schwankend, es wird damit sowohl ein Schwert als auch ein Speer bezeichnet. Der Zusatz iaraKjjjivr] lässt indess keinen
Zweifel daran, dass es an dieser Stelle als Schwert aufzufassen ist. Trotzdem ist in den Mosaiken von Santa Maria Maggiore
der Engel vor Josua mit der Lanze in der Rechten dargestellt (Garrucci, a. a. O. IV, tav. 221, 1).

5 Eine analoge Umcostümirung können wir bei Kreuzigungsdarstellungen beobachten. Z. B. auf dem schönen, von mir
wieder zusammengefundenen Diptychon, dessen Platten in Dresden und Hannover sind (Zeitschrift für christliche Kunst XII
[1899], Taf. 4) sind Gabriel und Michael, deren Büsten über den Kreuzarmen erscheinen, einfach in Tunica und Pallium
gekleidet. Auf dem oben, Anm. 2, erwähnten Triptychon in Berlin sind die Büsten aller vier Erzengel angebracht, und zwar
in der Tracht der byzantinischen Herrscher.

6 Vgl. Wilpert, L'Arte, giä archivio storico dell' Arte II (1899), p. 49.
 
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