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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 21.1900

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I. Theil: Abhandlungen
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Graeven, Hans: Typen der Wiener Genesis auf byzantinischen Elfenbein-Reliefs
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https://doi.org/10.11588/diglit.5733#0109
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io4

Hans Graeven.

ich jüngst das Jahr 1180 als terminus ante quem ermittelt habe.1 Bonannus nämlich, der damals die
Bronzethür für den Dom seiner Vaterstadt schuf, hat dabei als Vorbild für die Vertreibung unserer
Ureltern aus dem Paradiese ein byzantinisches Elfenbeinrelief benutzt gleich jenem, das sich im Museo
Olivieri zu Pesaro befindet.

Das Museum zu Pesaro besitzt ausser dem Relief der Vertreibung ein zweites, damit zusammen-
gehöriges Relief, das die Ermordung Abels und das Gespräch Gottes mit dem Mörder darstellt (Fig. 12).2
Gott ist hier durch die in der rechten Ecke erscheinende Hand symbolisirt. Kain erhebt beide Hände
mit ausgestrecktem Zeigefinger bis in Schulterhöhe. Unter Südländern kann man oft beobachten, dass
sie bei einer Verneinung, einer Ablehnung den Zeigefinger in dieser Weise erheben und hin- und her-
bewegen.3 Allerdings habe ich die Bewegung bisher nur mit der Rechten ausgeführt gesehen; doch
lässt sich denken, dass bei besonders starker Verneinung beide Hände in Thätigkeit gesetzt werden.

Fig. l3. Elfcnbeinrelief in Lyon.

Es ist hier demnach der Moment dargestellt, wo Kain auf die Frage des Herrn: »Wo ist dein Bruder
Abel?« die Antwort gibt: »Ich weiss nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?«

Der Mord geschieht in dem Relief durch eine Steinigung; Kains Rechte holt zu einem neuen
Wurfe aus; drei Steine hat er bereits auf den Bruder geschleudert, der getroffen vornüber stürzt und
mit der Rechten den Boden berührt. Diese Darstellung hat etwas sehr Unnatürliches; die Gestalten
sind einander so nahe, dass die Rechte Kains niedersausend den Kopf Abels berühren würde, und in
solchem Falle ist ein Steinwurf unmöglich. Spätere Elfenbeinschnitzer, z. B. der Verfertiger eines Re-
liefs in Lyon (Fig. i3),4 haben dies gefühlt und deshalb die Brüder weiter auseinander gerückt, selbst
einige Bäume dazwischen gesetzt und die Figur Abels geändert. Er ist hier nach rechts fliehend
niedergesunken; sein linkes Knie und seine linke Hand berühren den Boden, die Rechte ist zum
Himmel emporgerichtet und auch das Antlitz blickt nach oben. Die Figur ist nach dem Typus ge-
bildet, der im Josuarotulus für Achan 5 und der anderswo für verschiedene gesteinigte Märtyrer ver-
wendet worden ist.6 Die Darstellung des Reliefs in Pesaro lässt auf eine Verballhornung des ur-
sprünglichen Originals schliessen, in dem voraussichtlich Kain einen Knüttel geschwungen hat, nach
Analogie der meisten anderen Bildwerke.7 Es konnte leicht geschehen, dass in einem Relief wie das

1 L'Arte, giä archivio storico dell' Arte II (1899), p. 314.

2 S. Graeven, Frühchristliche und mittelalterliche Elfenbeinwerke. Aus Sammlungen in Italien, Rom 1900, Nr. 50.

3 Sittl, Die Geberden der Griechen und Römer, S. 86, schliesst aus der heutigen Verbreitung der Handbewegung, dass
sie auch im Alterthum üblich gewesen sei; doch weiss er keine Darstellung derselben namhaft zu machen. Die Kunst der
guten Zeit hat diesen Gestus der Verneinung offenbar deshalb nicht dargestellt, weil sein Charakteristicum gerade das Be-
wegen der Hand ist, während im Bildwerk nur das Erheben der Hand sichtbar gemacht werden kann.

4 Vgl. L'Arte, giä archivio storico dell' Arte II (1899), p. 312.

5 Abbildung bei Garrucci, a. a. O. III, tav. 163; Jahrbuch der königl. preussischen Kunstsammlungen XVIII
(1897), S. 12.

6 Z. B. in der Steinigung des Paulus auf einem frühchristlichen Elfenbeinrelief des British Museum, Garucci a. a. O. VI,
tav. 446, 11.

' S. die Zusammenstellung bei Tikkanen, a. a. O., S. 48.
 
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