Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 21.1900

DOI Heft:
I. Theil: Abhandlungen
DOI Artikel:
Graeven, Hans: Typen der Wiener Genesis auf byzantinischen Elfenbein-Reliefs
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5733#0114
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Typen der Wiener Genesis auf byzantinischen Elfenbeinreliefs.

IO9

der Sohne Jakobs, die dem Wagen voranschreiten, wendet sich um und treibt die Zugthiere mit einem
Stabe an. Darnach ist das Rinderpaar des Reliefs gewiss aufzufassen als das Gespann des Reisewagens,
den Josef seinem Vater nach Kanaan gesandt hatte (Gen. 45, 21).

Auf den beiden Berliner Reliefs ist die Bewegungssteifheit, die wir an dem Engel durch den
Vergleich mit der Genesisminiatur besonders krass hervortreten sahen, mehr oder minder allen Figuren
gemeinsam. Diese Steifheit ist eines der Hauptmerkmale jener Reliefgruppe, zu der die Michaelfigur
des British M useum (Fig. 16) und die Adam- und Evadarstellungen der ehemaligen Sammlung Pulszky
gehören. Die anderen Merkmale der Gruppe sind Zierlichkeit und Sorgfalt in der Ausführung; auch
diese beiden Eigenschaften besitzen die Berliner Reliefs. Streben nach Zierlichkeit zeigt sich z. B. am
Sessel Jakobs, dessen Theile alle kunstvoll gedrechselt scheinen; Streben nach Accuratesse macht sich
beispielsweise in der Darstellung der Thiere geltend, deren Fell in mühsamer Arbeit charakterisirt ist.
Schade, dass dem fleissigen Arbeiter jegliches Naturverständnis abging! Er hat die glatten Rinder mit
demselben Fell bedeckt wie das wollige Kameel. Ebenso verständnislos ist seine Behandlung der Gewän-
der, die einen engen Zusammenhang bekundet mit dem Pesareser und Bologneser Relief. Wie Kain
und Abel, wie Josua tragen die meisten Personen der Josefreliefs einen gegürteten Chiton mit dem
Wulste um den Hals. Bei Kain bemerken wir ein leichtes Flattern des Chitonzipfels, bei den Kriegern
Josuas bekommt derselbe einen sehr kräftigen Schwung. Auch dem Verfertiger der Josefreliefs hat das
Motiv des flatternden Zipfels sehr gefallen, so dass er es bei allen Figuren anbringt, selbst bei den ruhig
stehenden und gar bei dem sitzenden Bruder Josefs, dessen Gewand nach beiden Seiten flattert. Die
Beinbekleidung ist auf den Berliner Reliefs identisch mit der auf dem Pesareser und Bologneser Relief;
hie und da ist der obere Abschluss der Beinhüllen angegeben; anderswo reichen sie höher hinauf, so
dass sie tricotartigen Hosen gleichen, z. B. bei dem Bruder Josefs, der den Chiton mit der Rechten
hochzieht. Die gerillte Fussbekleidung ist für alle Personen verwendet, auch für jene, die anderes Schuh-
werk tragen müssten. Jakob hat in der Wiener Genesis und auf dem Dresdener Relief Sandalen, ebenso
der Engel in der Wiener Genesis und selbst noch auf dem Relief des British Museum (Fig. 16). Dem
Josef im Stande seiner Erhöhung kämen edelsteinbesetzte Schuhe zu, wie sie der Engel vor Josua trägt
(Fig. 10). Die Vergleichung der Berliner Tafeln mit dem Pesareser und Bologneser Relief ergibt, dass
jene einer späteren Zeit entstammen, in der die Kunst der Relief bildnerei einen weiteren Schritt abwärts
gemacht hatte; aber es fehlen noch sichere Anhaltspunkte, um den zeitlichen Abstand zu berechnen.

In der Entwicklung der Josefdarstellungen haben wir also die gleichen Phasen zu constatiren
wie in der Entwicklung der Josuadarstellungen. Den um 900 entstandenen Reliefs, die sich eng an-
lehnen an frühchristliche Miniaturen, stehen jüngere Reliefs gegenüber, die in ihren Typen von jenen
älteren Darstellungen abhängen, die aber in ihren Formen und in vielen Details beeinflusst worden
sind von Darstellungen aus der Schöpfungsgeschichte. Dass die Typen der Berliner Reliefs abzuleiten
sind von demselben Reliefcyklus, von dem uns die beiden trapezförmigen Platten erhalten sind, dass
also im Grunde auch die Berliner Reliefs auf die Typen der Wiener Genesis zurückgehen, lässt sich
mit Sicherheit behaupten. Bis vor Kurzem würde man als Beweis dafür einfach die Anwesenheit des
Engels angeführt haben, den nur das Berliner Relief und die Wiener Genesis mit Josef verbunden
zeigte; aber jetzt sind weitere Beispiele dieser Vereinigung bekannt geworden, seit man bei der Re-
vision der Reliquienkästchen im reichen Kirchenschatze zu Sens neue Reste byzantinischer Seiden-
gewebe aufgefunden hat.1

Auf einem Stoffreste in Sens, von dem eine Abbildung noch nicht vorliegt, schreitet der Engel,
kenntlich durch die Inschrift AITe AOC, nach links; er ist mit der langen Tunica und dem Mantel be-
kleidet aber ohne Flügel; seine linke Hand trägt einen Stab, die Rechte weist auf den Weg; sein Kopf ist
zu Josef umgewendet. Dieser, ebenfalls durch eine Inschrift IOCH<J> bezeichnet, erscheint in derselben
Tracht wie der Engel, ist aber kleiner gebildet als jener. Seine Linke hält einen unkenntlichen Gegenstand.

1 S. E. Chartraire et M. Prou, Note sur un tissu byzantin du tresor de la Cathedrale de Sens: Memoires de la Societe
des antiquaires de France LVIII (1899).
 
Annotationen