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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 21.1900

DOI Heft:
I. Theil: Abhandlungen
DOI Artikel:
Hermann, Hermann Julius: Zur Geschichte der Miniaturmalerei am Hofe der Este in Ferrara: Stilkritische Studien
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https://doi.org/10.11588/diglit.5733#0162
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Zur Geschichte der Miniaturmalerei am Hofe der Este in Ferrara.

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der Aussenseiten bildet an der unteren Seite den Rahmen zu den Bildern eine schöne Ar-
chitektur aus zwei rothen Pfeilern, die einen weissen Architrav tragen, der von einer weissen
Säule in der Mitte gestützt wird, während die beiden Miniaturen oben nur durch eine Vase
mit der Aufschrift »Genesis« geschieden sind. Wir werden sehen, dass diese Anordnung
der Anlage des Titelblattes der berühmten Bibel der Certosa von Ferrara zum Vorbilde
diente. In diese prachtvolle Umrahmung sind zwölf überaus feine Bildchen (je 6 auf jeder
Seite) aus der Schöpfungsgeschichte eingefügt, die sich in jeder Hinsicht als Kunstschöpfun-
gen darstellen, die eines bedeutenden Meisters würdig erscheinen. Trefflich in der Compo-
sition, sicher in der Zeichnung und Perspective, phantasievoll in der Landschaft und leuch-
tend imColorit, zeichnen sich die Bildchen durch feinsinnige Auffassung aus, die Crivelli den
Rang eines hervorragenden, selbständig erfindenden Meisters zuweist, dessen Stil oft an
Luca Signorelli erinnert. Ich will nur in Kürze auf das Einzelne aufmerksam machen und
verweise hier zum Vergleich auf das Titelblatt der Certosabibel im Palazzo Schifanoja zu
Ferrara (vgl. Tafel XX):

f. 5' oben rechts, auf schwarzem Grund: Von Cherubim umschwebt, Gott Vater segnend die Hände aus-
breitend; darunter schwebt der Geist Gottes in Gestalt der Taube über den Wassern;
grossartig in der Auffassung, einer Vision vergleichbar;
links, auf schwarzem Grund: Aus dem Chaos der vier Elemente formt Gott die Welt;
links oben: Gott bildet die Erde;

darunter: Gott scheidet Wasser und Land, dem die Vegetation entsprosst;
unten: Durch den oben erwähnten architektonischen Rahmen blicken wir in eine phantastische Land-
schaft mit Felsen und prächtigen Bäumen (die an umbrische Bilder erinnern); die
Mittelsäule scheidet die beiden Scenen:
links: Gott scheidet das Licht von der Finsternis und setzt Sonne, Mond und Sterne an den
Himmel.1 Mit vollendeter Meisterschaft ist hier die durch den Mond erhellte Nacht
(links) im Gegensatz zu dem leuchtenden Licht des Tages (rechts) dargestellt (vgl.
die Certosabibel);

rechts: Jehova erschafft Fische und Vögel, eine höchst lebendige Composition.
f. 6 oben: eine Wiesenlandschaft mit schroffen Felsen und reizenden Bäumchen mit zwei durch eine
Vase geschiedenen Scenen:
links: Schöpfung der Thiere; vorne Gott, den Löwen bildend; dahinter, bereits vollendet,
Pferd, Hund und Affe;

rechts: die Schöpfung des Menschen; Gott reicht seine Hand dem Adam, der sich aus dem
Lehm der Erde erhebt;

rechts oben: Gott zeigt dem Adam die Pflanzen der Erde; die zarte Behandlung der Bäumchen und
die treffliche Zeichnung und Modellierung der Actfigur Adams zeichnen das Bild-
chen aus;

darunter: Gott übergibt dem Adam die Thiere der Welt;
unten blicken wir wie auf f. 5' durch einen architektonischen Rahmen in eine reizende, phantastische
Landschaft, in welche, durch eine Säule geschieden, zwei Scenen eingefügt sind:
links: Gott bildet Eva aus einer Rippe Adams (vgl. die Certosabibel);
rechts: Adam und Eva (treffliche Actfiguren) im Paradies vor dem Schöpfer.

In diesen Genesisbildern des Titelblattes offenbart sich das Talent Crivellis von der schönsten Seite. Die
originelle Auffassung, Sorgfalt der Ausführung, Vollendung in der Zeichnung und coloristische Wirkung stehen
hier auf gleicher Höhe. Die Pracht der Ausstattung des Titelblattes vervollständigt die grosse Initiale I (»in prin-
cipio creavit deus celum et terram ...«), die die ganze linke Cölonne (f. 5') ausfüllt und sich durch die Seltsamkeit
der Erfindung auszeichnet. Von einem Rosenrahmen umgeben, ist die Initiale aus dünnen rohen Stäbchen auf
Goldgrund ausgeführt; links daneben in höchster Phantastik zwei verschlungene, blau und grün schillernde,
geflügelte Drachen; der Schwanz des einen, auf dem ein Adler sitzt, endet wieder in den Kopf eines Drachens,
der in den Hals eines dritten, grossen hellblauen Drachens beisst, dessen Pranke einen Knaben umfasst; weiter
unten ein Monstrum mit Vogelleib und dem Oberleib eines Kriegers, der in seiner Rechten ein vielgewundenes
Band mit Noten hält. Trefflich in der Ausführung, zeichnet sich diese Initiale, die schönste der Handschrift,
durch wundervollen Glanz der schillernden Farben aus.

Gegenüber der Vollendung dieses Titelblattes stehen die folgenden Miniaturen weit zurück, so dass man
geneigt wäre, diese dem Crivelli abzusprechen. Ein genaues Studium der Handschrift lehrt aber, dass auch diese
(mit Ausnahme der Miniaturen auf f. 9, f. 9', f. ii, f. n', die von Marco dell' Avogaro herrühren dürften) dem
Crivelli angehören, wenn auch eine Betheiligung von Gehilfen (unter Anderen des Giovanni da Lira) anzunehmen
ist. Die ganze Reihe der folgenden Miniaturen, die vielfach unter dem Einfluss des Squarcione stehen, entbehrt
der Sorgfalt der Ausführung und erst in den herrlichen Miniaturen zum zweiten und dritten Buch der Könige
steht Crivelli wieder auf voller Höhe; diese hat der Meister wohl ganz selbständig ausgeführt und darin sein hohes
künstlerisches Können bewiesen.

1 Die Darstellung ist dem Bilde gleichen Inhaltes in den Loggien des Raffael ähnlich.
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