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Max Dvorak.
die unvergleichlich grössere Bewältigung der Darstellungsmittel kommt das Locale und Individuelle
weit mehr zur Geltung, als es früher der Fall gewesen ist. An die Stelle der einheitlichen Tradition
treten die führenden Probleme und Errungenschaften, welche rasch eine universale Bedeutung erlangen
und ein immerwährendes Fluctuiren der Einflüsse, einen schnellen Stilwandel zur Folge haben.
Dazu kommt in der Büchermalerei noch etwas Anderes. Im frühen Mittelalter wird das Studium
der Miniaturen dadurch vereinfacht, dass die Zahl der illustrirten und illustrirbaren Texte immerhin
beschränkt war und dass die Handschriften in einer nicht gar zu grossen Anzahl von Scriptorien her-
gestellt wurden, welche über ein bestimmtes und begrenztes ikonographisches und ornamentales Material
verfügten. Davon kann keine Rede sein in einer Zeit, in welcher sich Handschriftenbedarf und Hand-
schriftenproduction auch ausserhalb der Klöster und des kirchlichen Lebens verbreitet hat.
Gleichzeitig mit einer neuen Literatur entstanden eine neue Illustration, neue, von der Antike
nicht mehr direct abhängige Miniaturen, bei denen vorläufig das Stabile nicht eine Werkstattradition ist,
sondern die sich wie im Alterthum als geschlossene Cyklen verbreiten. So wird, um eines der geläufig-
sten Beispiele zu nennen, zu dem Speculum humanae salvationis im XIII. Jahrhundert ein Cyklus von
Illustrationen erfunden, den wir in treuen Wiederholungen in deutschen, französischen und italieni-
schen Handschriften bis zum XV. Jahrhundert immer wieder finden, der noch zur Ausschmückung der
ältesten Drucke des Speculum verwendet wird.1
- Der allgemeine Bücherbedarf führt zur Entstehung von Werkstätten, in denen illuminirte Hand-
schriften handwerksmässig und für den Handel hergestellt werden. Es ist falsch, wenn man das Auf-
kommen eines neuen Stiles unter Ludwig dem Heiligen in Paris unmittelbar mit dieser Verweltlichung
der Büchermalerei in Zusammenhang bringt.2 Die sociale Wandlung ist vielmehr die äussere Folge
eines viel tiefer liegenden Umschwunges, der in gleicher Weise ein neues Verhältnis der Menschen zu
den Büchern und zur Natur wie neue allgemeine Kunstbedürfnisse und, wenn man will, auch den
neuen Stil geschaffen hat. Dagegen führt sicher die lose Verbindung der neuen Werkstätten mit der
älteren Kunstübung, der Mangel an bestimmten Vorbildern für Arbeiten eines neuen Inhaltes und von
anderer Verwendung als die gemalten Codices der vergangenen Periode und schliesslich die Massen-
produetion zu rascher Bildung und Entwicklung von neuen technischen und decorativen Gewohnheiten
und Schuleigenthümlichkeiten.
Das neue literarische Leben bleibt natürlich nicht auf Paris beschränkt; unter französischem Ein-
flüsse und selbständig entwickeln sich die Verhältnisse auch anderswo ähnlich und bringen ähnliche Ein-
richtungen hervor. Die neuen Werkstätten stehen jedoch nur ausnahmsweise in directer Beziehung zu
Paris; der französische Einfluss beschränkt sich auf Anregungen durch Handschriften und führt zu
neuen Versuchen mit alten und neuen Mitteln, die Bücherherstellung den neuen Erfordernissen und
dem neuen Geschmacke anzupassen. So findet man in den illuminirten Handschriften der zweiten
Hälfte des XIII. und der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts eine Mannigfaltigkeit der decorativen und
technischen Experimente, die kaum zu übersehen ist.
Die Zahl der Werkstätten, in denen Bücher gemalt wurden, lässt sich nicht einmal beiläufig be-
stimmen; doch man verfertigte illuminirte Codices auch ausserhalb der stabilen Werkstätten. So
schrieb und schmückte fast ein jeder Scholar Handschriften für sich und auf Bestellung. Kalligraphie
und ein bestimmter Bücherschmuck wurden ein allgemeines Erfordernis und auch ein allgemeines Eigen-
thum, wie heute einzelne Formen der Renaissancedecorationen. Durch den Welthandel mit Hand-
schriften wurden die Grenzen der provinziellen Entwicklung vollständig durchbrochen.
Bei frühmittelalterlichen Werken genügt es im Ganzen und Grossen, wenn die Untersuchung
von Prachthandschriften ausgeht. Im späten Mittelalter entsteht jedoch vielfach ein neuer decorativer
Stil aus Motiven, die früher nur zum Schmucke der billigen Handelswaare dienten, wie im XIII. Jahr-
hundert in Italien. Umgekehrt werden die Errungenschaften von berühmten Werkstätten mit der Zeit
1 Als Beispiele führe ich an: Nr. 1636 der Wiener Hofbibliothek (deutsch), Mst. fr. 400 der Pariser Nationalbibliothek
(französisch), Mst. lat. 9584 derselben Bibliothek (italienisch).
2 So in den Handbüchern.
Max Dvorak.
die unvergleichlich grössere Bewältigung der Darstellungsmittel kommt das Locale und Individuelle
weit mehr zur Geltung, als es früher der Fall gewesen ist. An die Stelle der einheitlichen Tradition
treten die führenden Probleme und Errungenschaften, welche rasch eine universale Bedeutung erlangen
und ein immerwährendes Fluctuiren der Einflüsse, einen schnellen Stilwandel zur Folge haben.
Dazu kommt in der Büchermalerei noch etwas Anderes. Im frühen Mittelalter wird das Studium
der Miniaturen dadurch vereinfacht, dass die Zahl der illustrirten und illustrirbaren Texte immerhin
beschränkt war und dass die Handschriften in einer nicht gar zu grossen Anzahl von Scriptorien her-
gestellt wurden, welche über ein bestimmtes und begrenztes ikonographisches und ornamentales Material
verfügten. Davon kann keine Rede sein in einer Zeit, in welcher sich Handschriftenbedarf und Hand-
schriftenproduction auch ausserhalb der Klöster und des kirchlichen Lebens verbreitet hat.
Gleichzeitig mit einer neuen Literatur entstanden eine neue Illustration, neue, von der Antike
nicht mehr direct abhängige Miniaturen, bei denen vorläufig das Stabile nicht eine Werkstattradition ist,
sondern die sich wie im Alterthum als geschlossene Cyklen verbreiten. So wird, um eines der geläufig-
sten Beispiele zu nennen, zu dem Speculum humanae salvationis im XIII. Jahrhundert ein Cyklus von
Illustrationen erfunden, den wir in treuen Wiederholungen in deutschen, französischen und italieni-
schen Handschriften bis zum XV. Jahrhundert immer wieder finden, der noch zur Ausschmückung der
ältesten Drucke des Speculum verwendet wird.1
- Der allgemeine Bücherbedarf führt zur Entstehung von Werkstätten, in denen illuminirte Hand-
schriften handwerksmässig und für den Handel hergestellt werden. Es ist falsch, wenn man das Auf-
kommen eines neuen Stiles unter Ludwig dem Heiligen in Paris unmittelbar mit dieser Verweltlichung
der Büchermalerei in Zusammenhang bringt.2 Die sociale Wandlung ist vielmehr die äussere Folge
eines viel tiefer liegenden Umschwunges, der in gleicher Weise ein neues Verhältnis der Menschen zu
den Büchern und zur Natur wie neue allgemeine Kunstbedürfnisse und, wenn man will, auch den
neuen Stil geschaffen hat. Dagegen führt sicher die lose Verbindung der neuen Werkstätten mit der
älteren Kunstübung, der Mangel an bestimmten Vorbildern für Arbeiten eines neuen Inhaltes und von
anderer Verwendung als die gemalten Codices der vergangenen Periode und schliesslich die Massen-
produetion zu rascher Bildung und Entwicklung von neuen technischen und decorativen Gewohnheiten
und Schuleigenthümlichkeiten.
Das neue literarische Leben bleibt natürlich nicht auf Paris beschränkt; unter französischem Ein-
flüsse und selbständig entwickeln sich die Verhältnisse auch anderswo ähnlich und bringen ähnliche Ein-
richtungen hervor. Die neuen Werkstätten stehen jedoch nur ausnahmsweise in directer Beziehung zu
Paris; der französische Einfluss beschränkt sich auf Anregungen durch Handschriften und führt zu
neuen Versuchen mit alten und neuen Mitteln, die Bücherherstellung den neuen Erfordernissen und
dem neuen Geschmacke anzupassen. So findet man in den illuminirten Handschriften der zweiten
Hälfte des XIII. und der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts eine Mannigfaltigkeit der decorativen und
technischen Experimente, die kaum zu übersehen ist.
Die Zahl der Werkstätten, in denen Bücher gemalt wurden, lässt sich nicht einmal beiläufig be-
stimmen; doch man verfertigte illuminirte Codices auch ausserhalb der stabilen Werkstätten. So
schrieb und schmückte fast ein jeder Scholar Handschriften für sich und auf Bestellung. Kalligraphie
und ein bestimmter Bücherschmuck wurden ein allgemeines Erfordernis und auch ein allgemeines Eigen-
thum, wie heute einzelne Formen der Renaissancedecorationen. Durch den Welthandel mit Hand-
schriften wurden die Grenzen der provinziellen Entwicklung vollständig durchbrochen.
Bei frühmittelalterlichen Werken genügt es im Ganzen und Grossen, wenn die Untersuchung
von Prachthandschriften ausgeht. Im späten Mittelalter entsteht jedoch vielfach ein neuer decorativer
Stil aus Motiven, die früher nur zum Schmucke der billigen Handelswaare dienten, wie im XIII. Jahr-
hundert in Italien. Umgekehrt werden die Errungenschaften von berühmten Werkstätten mit der Zeit
1 Als Beispiele führe ich an: Nr. 1636 der Wiener Hofbibliothek (deutsch), Mst. fr. 400 der Pariser Nationalbibliothek
(französisch), Mst. lat. 9584 derselben Bibliothek (italienisch).
2 So in den Handbüchern.