Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 22.1901

DOI Heft:
I. Theil: Abhandlungen
DOI Artikel:
Dvořák, Max: Die Illumination des Johann von Neumarkt
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5948#0110
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
104

Max Dvorak.

aus dem Leben des Heilands fast ganz verschwunden. Die Bibel wurde neu illustrirt und die neuen
Bilderreihen unterscheiden sich in keiner Beziehung von den Illustrationen der profanen Literatur.
Die Geschichte der Erlösung wird in eine Legende umgewandelt oder als Grundlage für ein typo-
logisch-scholastisches System benützt und die zahlreichen Bilder und Bildercyklen, welche in dieser
oder jener Richtung erfunden wurden, nehmen unter den übrigen legendarisch- oder theologisch-
speculativen Darstellungsstoffen keine besondere Stelle ein. Das geht so weit, dass selbst in dem Psalter,
im Gebet- und Erbauungsbuche, die, man könnte sagen, bereits canonischen Darstellungen des Lebens
und der Passion Christi durch allegorische Sujets ersetzt wurden. Und nun findet man im XIV. Jahr-
hundert plötzlich wiederum die alten und vergessenen Compositionen allgemein verbreitet. Die Geburt

Christi wird, um ein recht augen-

fälliges Beispiel zu nennen, wieder
so dargestellt wie in der altchristlichen
und frühmittelalterlichen Kunst: in
einer Felslandschaft und verbunden
mit einer Hirtenscene, welcher deut-
lich der antike Ursprung der Compo-
sition zu entnehmen ist. Scenen, die
im XIII. Jahrhundert selten dargestellt
wurden, wie z. B. die Grablegung
und Beweinung Christi, findet man
wiederholt und wiederholt in der zwei-
ten Hälfte des XIV. Jahrhunderts,
und zwar in jener Fassung, welche
sie durch die giotteske und siene-
sische Kunst erhalten haben. Die
ausführlichen Schilderungen der Pas-
sion Christi, vor Allem die figuren-
reichen Kreuzigungsscenen gehen auf
die grossen Schöpfungen der Italiener
zurück und die Madonnendarstellun-
gen schliessen sich mehr oder weniger
den italienischen Repräsentations-
bildern an. In den Gebetbüchern
findet man wieder Bilder aus dem
Leben Christi und Marias, die jedoch
von den analogen Cyklen der älteren
Psalterien unabhängig sind. Selbst in die Specula und Armenbibeln dringen italienische Compositionen
ein (vgl. Fig. 27, 28 und 29).

Um die Wende des XIV. und XV. Jahrhunderts lässt sich ein italienischer Einfluss in dieser Rich-
tung in allen Kunstcentren des Nordens beobachten: in Paris und in Burgund, in Köln, Prag und
Nürnberg. Ueberall findet man einen Kreis von Darstellungen besonders aus dem Leben Christi und
der Madonna, die, mit älteren ähnlichen Compositionen verglichen, sich als neu erweisen und ihrem
Ursprünge nach auf italienische Vorbilder zurückgehen. Eine cultur- und religionsgeschichtliche Er-
klärung dieser Reception scheint nahezuliegen.

Die merkwürdigen und tiefen Veränderungen, die sich im religiösen Empfinden und dessen
Aeusserungen im XIII. und XIV. Jahrhundert vollzogen haben und die wir kaum mit modernen Be-
griffen richtig fassen und mit modernen Worten richtig charakterisiren können, sind natürlich nicht
ohne Einfluss auf die Kunst geblieben. Wie in allen Dingen, emancipirte sich endlich das Abendland
auch in der Religion; die letzten Fesseln des spätantiken dogmatisch-speculativen Religionssystems

Fig. 29. Miniatur auf Fol. 29' des Speculum humanae salvationis.
Handschrift Nr. 23433° der Hof bibliothek in München.
 
Annotationen