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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0293
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Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck.

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brunnens finden wir in dem Livre d'heures von Chantilly. Der barocke Schwung des Faltenwurfes ge-
hört zu den gotischen Merkmalen des Stiles Slüters und seiner Zeit und hat seinen Ursprung in der
plastisch und an Motiven immer reicheren Umbildung der traditionellen Schemen der gotischen Ge-
wandung. An giotteske Figuren erinnern jedoch die Engel des Mosesbrunnens und aus der giottesken
Überlieferung stammt auch die großzügige einfach monumentale Gewandbehandlung, welche wir z. B.
an den Pleurants beobachten können.

Aus den angeführten Beispielen, die keinesfalls das Material auch nur annähernd
erschöpfen, ersehen wir also, daß sich in Frankreich in den ersten Jahrzehnten des
XV. Jahrhunderts im Anschlüsse an die ganze Entwicklung der französischen goti-
schen Kunst ein Stil herausbildete, welcher, auf allen Errungenschaften der gotischen
Kunst im Norden und in Italien beruhend, über die Kunst des Trecento sowohl in
der Ausgestaltung der Darstellungsprobleme als auch in ihrer naturalistischen Durch-
bildung hinausgeht, ohne jedoch die Grenzen ganz zu überschreiten, die ihm durch
die gotischen Schemen und Typen, durch die
ganze gotische Überlieferung gezogen wurden.

Erinnern wir uns nun dessen, was das Ergebnis unse-
rer Untersuchung über den Stil Hubert van Eycks gewesen
ist. Könnte man nicht dieses Ergebnis mit denselben Wor-
ten zusammenfassen, mit welchen wir soeben den dritten
Stil der französischen Kunst in der von uns geschilderten
Periode beschrieben haben? Alle allgemeinen entwicklungs-
geschichtlichen Merkmale, welche dieser Stil aufweist, fin-
den wir an den Bildern Huberts wieder und umgekehrt
könnte alles, was wir über die Prinzipien seiner Kunst ge-
sagt haben, auch über die Prinzipien jenes Stiles gesagt
werden. Schritt für Schritt konnten wir nachweisen, wie
an den Tafeln, die das Vermächtnis Huberts an dem Gen-
ter Altare bilden, sich giotteske und nordisch-gotische Stil-
elemente verknüpfen zu einem Stile, dessen letzte Ziele durch
die allgemeinen Darstellungsformen der gotischen Kunst bestimmt werden, die in diesen Tafeln ihre
letzte und höchste Ausgestaltung erfahren haben. Eine Betrachtung der Geschichte der gotischen Kunst
in Frankreich im Verlaufe von hundert Jahren, welche den Werken Huberts vorangehen, lehrte uns
aber, wie sich derselbe Stil allmählich und notwendig entwickelte. Es kann also über die entwicklungs-
geschichtliche Stellung der Kunst Huberts kein Zweifel sein: diese Kunst ist nicht nur an den Ufern
der Mosel, wie uns Carel van Mander glauben machen möchte, ist auch nicht als «die plötzliche Offen-
barung eines der größten Genien der Menschheit» entstanden, wie uns moderne Forscher überzeugen
wollten, sondern beruht ganz und gar auf der Entwicklung der vorangehenden Kunst, über die sie nicht
mehr und nicht weniger hinausgeht, als es auch sonst bei der Kunst großer Künstler der Fall ist.

Es sei uns gestattet, wiederum unsere Darstellung ein wenig zu unterbrechen, um einige Worte
über den kulturellen Kreis zu sagen, mit dem die Kunst Huberts im Zusammenhange steht. Wir
haben gehört, welche kulturelle Bedeutung den nordfranzösischen Höfen in der zweiten Hälfte des
XIV. Jahrhunderts beizumessen ist. Zu Beginn des XV. Jahrhunderts können wir die Beobachtung
machen, daß die hohe und intensive Kultur der gelehrten und adeligen Kreise in den nordfranzösischen
Provinzen territorial und sozial sich auszubreiten beginnt, wie wir es ja stets im Verlaufe der Ge-
schichte beobachten können, daß eine Kultur, die als die Schöpfung von wenigen einen bestimmten
Höhepunkt erreichte, allmählich auch anderen gesellschaftlichen oder territorialen Kreisen begehrens-
wert erscheint.

Wichtig und epochal wird diese kulturelle Nobilitation dort, wo sie mit günstigen geschichtlichen
oder wirtschaftlichen Vorbedingungen zusammentrifft. Das trat im XV. Jahrhundert in zwei Gebieten

Fig. 49. Claus Slüter, Philipp der Kühne.
Dijon.
 
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