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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Editor]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0295
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Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck.

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und in der zuletzt das Fatum entscheidet. Und wie bei dem Lebenskampfe eines Genius vor allem
die Verleger seiner Schriften oder Taten den Gewinn haben, so kam auch das französische Königs-
drama der Aristokratie d'argent zugute, die in «jenen bewegten Zeiten vorsichtig und klug gewesen
ist». Im Jahre 1408 hat noch Jean Sans Peur mit 2000 Reitern ein Heer von 40.000 Lüttichern einfach
zerstampft, aber der Herzog wurde auf der Brücke von Montereau ermordet und Gent wurde immer
reicher. So wurde der Aufschwung der nordfranzösischen und niederländischen Kommunen auch un-
mittelbar eine Folge der Entwicklung, die sich in Frankreich vollzogen hat.

Neue soziale Schichten können, nachdem sie sich politische oder wirtschaftliche Geltung er-
rungen haben, die Erbschaft und Handhabung einer älteren Kultur übernehmen, doch nie über die
Nacht eine neue Kultur schaffen. So ist auch die Kultur der nordfranzösischen und niederländischen
Kommunen und Gebiete nicht als eine territoriale Neuschöpfung im Gegensatze zu der Kultur der
älteren Zeit und anderen Gebiete entstanden, sondern im Anschlüsse an die große kulturelle Evolution,
die sich in Nordfrankreich im Mittelalter vollzogen hat. Wie sich in Italien im XV. Jahrhundert in
Florenz, im XVI. Jahrhundert in Venedig der ganze Schatz von kulturellen Errungenschaften an-
sammelt, welchen die kulturelle Entwicklung Italiens seit der Antike hervorgebracht hat, so über-
nahmen die sogenannten burgundischen Gebiete im XV. und XVI. Jahrhundert das ganze Vermächtnis
der kulturellen Bildung, die sich bis zu jener Zeit nördlich der Alpen und vor allem in Frankreich ent-
wickelt hatte. Nie wären die Tuchhändler, Kaufleute oder Geldagenten von Brügge oder Lüttich durch
eigenes Grübeln zum «Bewußtsein ihrer Individualität» gekommen, wenn sich nicht auf den franzö-
sischen Universitäten der große Prozeß der Emanzipation von der hierarchischen Bildung des frühen
Mittelalters auf Grund von unermüdlicher Arbeit vieler Generationen vollzogen hätte; nie hätte ein
Jodocus Vydts ein Kunstwerk stiften können, welches der Grundstein einer modernen Kunst geworden
ist, wenn nicht jene Umgestaltung der höfischen Gesellschaft zur persönlichen Inanspruchnahme der
Wissenschaft und Künste vorausgegangen wäre, von der wir oben gesprochen haben. Während sich
jedoch der Herzog von Berry oder von Burgund ein Mausoleum aus Marmor bauen ließ, begnügte
sich der reiche Bürger mit einem gemalten Schreine.

Wie in einem Sammelbecken fließt also in den flandrischen Provinzen zu Beginn des XV. Jahr-
hunderts alles zusammen, was die Vergangenheit und Gegenwart im Norden an kulturellen Werten
geschaffen hat, diese Gebiete zu derselben Bedeutung wie Italien für ganz Mitteleuropa erhebend.
Noch Dürer wanderte nicht nur über die Alpen sondern auch über den Rhein. Aus dieser allgemeinen
Rezeption und Verarbeitung der alten Kultur in neuen Gebieten und gesellschaftlichen Klassen ist es
jedoch auch zu erklären, warum die flandrischen Provinzen plötzlich die Führung in der Kunst über-
nommen haben. Es ist wiederum nicht die provinziale Kunst, die auf einmal sich zu einer prävalenten
Höhe entwickelt hätte, sondern die alte Kunstentwicklung, die hierher verpflanzt wurde und die unter
neuen günstigen Verhältnissen zu einer neuen Phase gelangt. Das wiederholte sich seit den ersten An-
fängen der Kunst immer wieder von neuem.

Dieser große Aufschwung der nordfranzösischen und flandrischen Provinzen fällt nun mit der
Ausbildung des letzten Stiles der französischen Gotik zusammen und so war es dieser Stil, an den das
neue intensive Kunstleben in den nordfranzösischen und flandrischen Gebieten anknüpfte, was seine
allgemeine Bedeutung noch mehr erhöhte. Es waren von nun an nicht nur die künstlerischen Unter-
nehmungen der französischen Höfe, an denen er sich rasch entwickelte und von welchen aus sich sein
Einfluß verbreitet, sondern auch das ganze Kunstschaffen in Kommunen, welche in vielfacher Hinsicht
eine noch größere universale Bedeutung hatten als die französischen Höfe. Doch wo sind die Monu-
mente dieses Stiles, die nicht der höfischen Kunst angehören würden? wird der Leser fragen. Man
könnte wohl eine Reihe von Skulpturen nennen, die sein Eindringen in die bürgerliche Kunst der flan-
drischen Provinzen beweisen. Doch für die Bildhauer hatte man in den Gemeinden wenig Beschäfti-
gung, die Skulptur spielt auch das ganze XV. Jahrhundert hindurch keine wesentliche Rolle, weder in
Flandern noch in Brabant, und bleibt auch in ihrer weiteren Entwicklung an Höfe und Dombauten
gebunden. Dagegen gibt es eine Kategorie von Kunstwerken, welche in jener Zeit fast nur in den

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